Mein Leben Ohne Gestern
festgestellt, dass ein nordöstlicher Wind Cambridge in über dreißig Zentimeter Schnee gehüllt hatte und ihre Kollegen, die nicht ganz so vertieft in ihre Arbeit waren und / oder in Büros mit Fensterplätzen saßen, allesamt die William James Hall in weiserVoraussicht verlassen hatten, um sich auf den Heimweg zu machen und sich mit Brot, Milch und Toilettenpapier einzudecken.
Aber jetzt musste sie aufhören, aus dem Fenster zu starren. Etwas später an diesem Nachmittag würde sie zur Jahreskonferenz der Psychonomischen Gesellschaft in Chicago aufbrechen, und sie hatte vorher noch tausend Dinge zu erledigen. Sie warf einen Blick auf ihre Erledigungsliste.
Nature-Neuroscience-Aufsatz durchsehen
Institutsbesprechung
Treffen mit Lehrassistenten
Kognitionskurs
Konferenzplakat und Reiseroute festlegen
Laufen
Flughafen
Sie trank den letzten, wässerigen Schluck ihres Eistees und begann, die Notizen für ihre Vorlesung durchzugehen. In der heutigen Vorlesung ging es um Semantik, die Bedeutung der Sprache. Es war die dritte von sechs Linguistik-Vorlesungen, ihre Lieblingskursreihe in diesem Studiengang. Selbst nach fünfundzwanzig Jahren Lehrtätigkeit nahm sich Alice vor jeder Vorlesung noch immer eine Stunde Zeit für die Vorbereitung. Natürlich konnte sie an diesem Punkt in ihrer Karriere fünfundsiebzig Prozent jeder Vorlesung, die sie je gehalten hatte, fehlerfrei abspulen, ohne bewusst darüber nachdenken zu müssen. Aber die anderen fünfundzwanzig Prozent enthielten Einsichten, innovative Techniken oder Diskussionspunkte aus aktuellen Erkenntnissen auf dem betreffenden Gebiet, und sie nutzte die Zeit unmittelbar vor einem Kurs gern, um die Organisation und Präsentation dieses neueren Materials zu verfeinern. Dadurch, dass sie diese sich ständig weiterentwickelnden Informationen mit einbezog, erhielt sie sich in jeder Stundeihre Leidenschaft für die Themen ihrer Kurse und auch ihre geistige Wachheit.
Der Schwerpunkt lag für das Kollegium in Harvard eindeutig auf der Forschungsleistung, daher wurde eine nicht völlig optimale Lehre weitgehend toleriert, sowohl von den Studenten als auch von der Verwaltung. Dass Alice ihren eigenen Schwerpunkt dennoch auf die Lehre legte, lag zum Teil an ihrer Überzeugung, sowohl die Verpflichtung zu haben wie auch die Gelegenheit nutzen zu müssen, die nächste Generation für ihr Gebiet zu begeistern. Zumindest wollte sie nicht der Grund dafür sein, weshalb der nächste vielleicht große, führende Denker auf dem Gebiet der Kognition die Psychologie aufgab, um stattdessen einen Abschluss in Politikwissenschaft anzustreben. Außerdem hatte sie einfach Freude an der Lehre.
Bereit für ihren Kurs, warf sie noch rasch einen Blick in ihre E-Mails.
Alice, wir warten immer noch auf deine 3 Folien für Michaels Vortrag: 1 Wortfindungsdiagramm, 1 Modell für einen Sprachwitz-Cartoon und 1 Textfolie. Sein Vortrag ist erst am Donnerstag um 13.00 Uhr, es wäre aber gut, wenn er deine Folien so bald wie möglich in die Präsentation einbauen könnte, um sicherzugehen, dass er mit allem zufrieden ist und damit noch im vorgesehenen Zeitrahmen bleibt. Du kannst sie entweder mir oder Michael mailen.
Wir wohnen im Hyatt. Wir sehen uns in Chicago.
Beste Grüße,
Eric Greenberg
Eine kalte und staubige Glühbirne ging flackernd in Alice’ Kopf an. Das war also der geheimnisvolle »Eric« auf einer ihrer Erledigungslisten der letzten Woche. Es ging gar nicht umEric Wellman. Es sollte sie daran erinnern, diese Folien an Eric Greenberg zu mailen, einen ehemaligen Harvard-Kollegen, der jetzt Professor am Institut für Psychologie in Princeton war. Alice und Dan hatten drei Folien mit einem Schnelltest erstellt, den Dan im Rahmen einer Zusammenarbeit mit Erics Postdoktoranden Michael durchgeführt hatte und der in Michaels Vortrag bei der Psychonomischen Konferenz verwendet werden sollte. Bevor sie von irgendetwas anderem abgelenkt werden konnte, mailte Alice die Folien zusammen mit einer aufrichtigen Entschuldigung an Eric. Zum Glück würde er sie noch früh genug bekommen. Kein Schaden entstanden.
Wie fast alles in Harvard war auch der Hörsaal, in dem Alice’ Kognitionskurs stattfand, größer als notwendig. Auf den blau gepolsterten, stadionartig angeordneten Sitzen hatten ein paar Hundert Studenten mehr Platz, als sich zu dem Kurs angemeldet hatten. Eine eindrucksvolle audiovisuelle Anlage auf dem neuesten Stand der Technik stand hinten im Raum, und vorn hing
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