Mein Leben Ohne Gestern
eine Projektionsleinwand, so groß wie in einem Kinosaal. Während drei Männer eifrig damit beschäftigt waren, diverse Kabel an Alice’ Computer anzuschließen und Licht und Ton zu überprüfen, schlenderten Studenten herein, und Alice öffnete den Ordner mit den Linguistik-Vorlesungen auf ihrem Laptop.
Er enthielt sechs Dateien: Erwerb, Syntax, Semantik, Verständnis, Modelle und Pathologien. Alice las sie sich noch einmal durch. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, welche Vorlesung sie heute halten sollte. Sie hatte soeben die letzte Stunde damit verbracht, sich eines dieser Themen noch einmal anzusehen, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, welches. War es Syntax? Sie kamen ihr alle bekannt vor, aber keines stach deutlicher unter den übrigen hervor.
Seit ihrem Besuch bei Dr. Moyer wurde Alice jedes Mal, wenn sie irgendetwas vergaß, etwas mulmiger zumute. Das hier war etwas anderes als bloß zu vergessen, wo sie ihr Blackberry-Ladegerät oder John seine Brille hingetan hatte. Das hier war nicht normal. Eine gequälte, paranoide innere Stimme hatte ihr in letzter Zeit immer öfter gesagt, dass sie vermutlich einen Gehirntumor hatte. Und sie hatte ihr befohlen, nicht auszuflippen oder John zu beunruhigen, bis sie genauere Informationen von Dr. Moyer hatte. Das würde leider erst nächste Woche der Fall sein, nach der Psychonomischen Konferenz.
Entschlossen, die nächste Stunde zu überstehen, holte sie einmal tief und entnervt Luft. Sie wusste zwar nicht mehr das Thema der heutigen Vorlesung, aber sie wusste, wer ihre Zuhörer waren.
»Kann mir bitte jemand sagen, was für heute auf Ihrem Lehrplan steht?«, bat Alice den Kurs.
Mehrere Studenten riefen in einem versetzten Chor: »Semantik.«
Alice hatte sich zu Recht darauf verlassen, dass sich zumindest einige ihrer Studenten auf die Gelegenheit stürzen würden, sich als hilfsbereit und sachkundig hervorzutun. Sie war nicht eine Sekunde besorgt gewesen, einer von ihnen könnte es für seltsam oder bedenklich halten, dass sie das Thema der heutigen Vorlesung nicht wusste. Es bestand eine gewaltige metaphysische Distanz an Alter, Wissen und Macht zwischen Studenten und ihren Professoren.
Außerdem hatte sie im Laufe dieses Semesters ihre Kompetenz auf ihrem Fachgebiet schon oft unter Beweis gestellt und ihre Studenten mit ihrer überragenden Präsenz beeindruckt, was die Fachliteratur des Kurses betraf. Falls einer von ihnen überhaupt darüber nachdachte, nahm er vermutlich an, dass sie von anderen Verpflichtungen, die wichtiger waren als ihr Psychologie-Grundkurs, so abgelenkt war, dass sie keine Zeit hatte, vor der Vorlesung auch nur einen Blick auf denLehrplan zu werfen. Sie konnten nicht ahnen, dass sie sich die ganze letzte Stunde fast ausschließlich mit Semantik beschäftigt hatte.
Bis zum Abend hatte sich der sonnige Tag zugezogen und bewölkt, der erste echte Flirt mit dem Winter. Ein heftiger Regen in der Nacht zuvor hatte die restlichen Blätter fast vollständig von den Zweigen gefegt, und nun standen die Bäume nahezu kahl da, ungeschützt vor der kommenden Witterung. Eingemummt in ihre Fleecejacke, ging Alice gemächlich nach Hause, genoss den Geruch der kalten, herbstlichen Luft und das knirschende Geräusch unter ihren Füßen, die durch die Haufen gefallenen Laubs schlenderten.
In ihrem Haus brannte Licht, und Johns Tasche und Schuhe standen am Tisch neben der Tür.
»Hallo? Ich bin zu Hause«, sagte Alice.
John kam aus dem Arbeitszimmer und starrte sie an, verwirrt und um Worte verlegen. Alice starrte zurück und wartete. Sie spürte nervös, dass irgendetwas Schlimmes passiert war. Ihre ersten Gedanken galten den Kindern. Sie stand wie angewurzelt im Türrahmen, machte sich auf entsetzliche Nachrichten gefasst.
»Solltest du nicht in Chicago sein?«
»Nun, Alice, Ihre Blutwerte sind alle normal, und ihr MRT hat keine Auffälligkeiten ergeben«, sagte Dr. Moyer. »Wir können jetzt zweierlei tun. Wir können entweder abwarten und sehen, wie es weitergeht, sehen, wie Sie schlafen und wie es Ihnen in drei Monaten geht, oder –«
»Ich will mit einem Neurologen sprechen.«
DEZEMBER 2003
Am Abend von Eric Wellmans Weihnachtsfeier hing der Himmel tief und schwer, wie Schnee. Alice hoffte, es würde bald schneien. Wie die meisten Neuengländer freute sie sich noch immer wie ein Kind auf den ersten Schnee des Winters. Natürlich, was sie sich im Dezember wünschte, würde sie, ebenfalls wie die meisten Neuengländer, spätestens
Weitere Kostenlose Bücher