Mein Leben Ohne Gestern
unbekümmert. All diese Frauen trafen sich zum Lunch und zum Shoppen und in Buchclubs. Diese Frauen standen sich nahe. Alice stand ihren Ehemännern nahe, und das trennte sie von ihnen. Sie hörte hauptsächlich zu und trank ihren Wein, nickte und lächelte, während sie der Unterhaltung folgte, ohne wirklich Interesse zu haben, als würde sie auf einem Laufband statt auf einer richtigen Straße laufen.
Sie schenkte sich noch einmal Wein nach, schlüpfte unbemerkt aus der Küche und fand John im Wohnzimmer, im Gespräch mit Eric, Dan und einer jungen Frau in einem roten Kleid. Alice stellte sich neben Erics Flügel und glitt mit den Fingern darüber, während sie dem Gespräch zuhörte. Jedes Jahr hoffte Alice, dass irgendjemand anbieten würde, etwas zu spielen, aber das war nie der Fall. Sie und Anne hatten als Kinder jahrelang Unterricht bekommen, aber heutzutage konnte sie ohne Notenblätter nur noch Alle meine Entchen und Fuchs, du hast die Gans gestohlen spielen, und das auch nur mit der rechten Hand. Vielleicht konnte diese Frau in dem schicken roten Kleid ja Klavier spielen.
In einer Gesprächspause nahmen Alice und die Frau in Rot Blickkontakt auf.
»Entschuldigung, ich bin Alice Howland. Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet.«
Die Frau sah nervös zu Dan hinüber, bevor sie antwortete.
»Ich bin Beth.«
Sie schien jung genug, um eine Studentin zu sein, aber spätestens jetzt im Dezember hätte Alice sie erkannt, selbst wenn sie im ersten Semester war. Sie erinnerte sich, dass Marty erwähnt hatte, er hätte eine neue Postdoktorandin eingestellt.
»Sind Sie Martys neue Postdoktorandin?«, fragte Alice.
Die Frau sah noch einmal zu Dan hinüber.
»Ich bin Dans Frau.«
»Oh, ich freue mich so, Sie endlich kennenzulernen, meine herzlichen Glückwünsche!«
Niemand sagte etwas. Erics Blick huschte von Johns Augen zu Alice’ Weinglas und wieder zurück zu John, und ein stilles Geheimnis lag in seinem Blick. Alice war nicht eingeweiht.
»Was ist denn?«, fragte Alice.
»Weißt du was? Es wird schon spät, und ich muss morgen früh raus. Wollen wir vielleicht aufbrechen?«, fragte John.
Sobald sie draußen waren, wollte sie John fragen, was denndieser Blickwechsel zu bedeuten hatte, aber dann wurde sie abgelenkt von der zarten Schönheit des Pulverschnees, der wie Puderzucker gefallen war, während sie im Haus waren. Sie vergaß es.
Drei Tage vor Weihnachten saß Alice im Wartezimmer der Abteilung für Gedächtnisstörungen am Massachusetts General Hospital in Boston und tat, als würde sie das Gesundheitsmagazin lesen. Stattdessen beobachtete sie die anderen Wartenden. Sie waren alle paarweise da. Eine Frau, die zwanzig Jahre älter als Alice aussah, saß neben einer Frau, die noch einmal mindestens zwanzig Jahre älter sein musste, vermutlich ihrer Mutter. Eine Frau mit dichtem, unnatürlich schwarzem Haar und schwerem Goldschmuck redete laut und langsam in einem breiten Bostoner Akzent mit ihrem Vater, der im Rollstuhl saß und nicht ein einziges Mal von seinen strahlend weißen Schuhen aufsah. Eine hagere Frau mit silbernen Haaren blätterte Seiten einer Zeitschrift zu schnell um, als dass sie sie hätte lesen können, neben einem übergewichtigen Mann mit ähnlicher Haarfarbe und einem Ruhetremor in der rechten Hand. Vermutlich ein Ehepaar.
Sie wartete eine Ewigkeit, bis ihr Name endlich aufgerufen wurde. Dr. Davis hatte ein junges, glatt rasiertes Gesicht. Er trug eine schwarz umrandete Brille und einen weißen, aufgeknöpften Laborkittel. Er sah aus, als sei er einmal schlank gewesen, aber man konnte durch den offenen Kittel sehen, dass sein Bauch ein bisschen über den Hosenbund hing, und Alice musste an Toms Kommentar darüber denken, wie schlecht Ärzte auf ihre Gesundheit achteten. Er saß hinter seinem Schreibtisch und bat Alice, ihm gegenüber Platz zu nehmen.
»Nun, Alice, erzählen Sie mir, was mit Ihnen los ist.«
»Ich habe in letzter Zeit oft Probleme mit dem Gedächtnis,und das scheint mir nicht normal zu sein. Ich vergesse Wörter in Vorlesungen und Gesprächen, ich muss mir ›Kognitionskurs‹ auf meine Erledigungsliste schreiben, damit ich nicht vergesse, ihn zu halten, und einmal habe ich völlig vergessen, für eine Konferenz in Chicago zum Flughafen zu fahren, und habe meinen Flug verpasst. Außerdem wusste ich einmal auf dem Harvard Square ein paar Minuten lang nicht, wo ich war, und dabei bin ich Professorin in Harvard, ich bin jeden Tag dort.«
»Wie lange
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