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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Orientierungslosigkeit Sorgen. Ich glaube nicht, dass es ein vaskuläres Ereignis war. Ich denke, wir sollten ein paar Untersuchungen durchführen. Wir werden ein Blutbild und ein Mammogramm von Ihnen erstellen lassen, außerdem sollten wir eine Messung der Knochendichte durchführen. Dafür ist es sowieso an der Zeit. Und ein Gehirn-MRT.«
    Ein Gehirntumor . Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Ein neues Ungeheuer baute sich bedrohlich in ihrer Fantasie auf, und wieder spürte sie, wie die ersten Anzeichen von Panik in ihrer Magengegend rumorten.
    »Wenn Sie nicht glauben, dass es ein Schlaganfall war, wonach suchen Sie dann bei dem MRT?«
    »Es ist immer gut, diese Dinge eindeutig auszuschließen. Vereinbaren Sie einen Termin für das MRT und danach einen bei mir, und dann werden wir alles besprechen.«
    Dr. Moyer hatte es vermieden, die Frage direkt zu beantworten, aber Alice wollte sie nicht drängen, ihren Verdachtoffen zu äußern. Und Alice sagte nichts von ihrer Tumortheorie. Sie würden beide einfach abwarten müssen.

    In der William James Hall befanden sich die Institute für Psychologie, Soziologie und Sozialanthropologie, genau hinter den Toren des Harvard Yard in der Kirkland Street, einer Gegend, die unter den Studenten als »Sibirien« bekannt war. Die geografische Lage war allerdings nicht der ausschlaggebende Grund, weshalb sie so abgesondert vom Hauptcampus war. Die William James Hall würde niemals mit einem der stattlichen, klassischen Collegegebäude verwechselt werden, die den angesehenen Yard zierten und in denen die Unterkünfte der Erstsemester und die Hörsäle für Mathematik, Geschichte und Englisch untergebracht waren. Man hätte sie allerdings mit einem Parkhaus verwechseln können. Sie besaß keine dorischen oder korinthischen Säulen, keinen Backstein, kein Tiffany-Buntglas, keine Turmspitzen, keinen weitläufigen Innenhof, nicht ein einziges äußeres Detail, das sie auch nur annähernd mit ihrer Mutterinstitution in Verbindung brachte. Sie war ein siebzig Meter langer, fantasielos beigefarbener Block, der gut und gern das Vorbild für die Skinner-Box hätte sein können. Es war kein Wunder, dass sie weder auf den studentischen Führungen noch im Harvard-Kalender, Frühling, Sommer, Winter oder Herbst, je vorgestellt wurde.
    Doch so entsetzlich der Anblick der William James Hall auch sein mochte, so einzigartig war der Ausblick, den sie bot, vor allem von vielen der Büros und Konferenzräume in den oberen Etagen. Während Alice an ihrem Schreibtisch in ihrem Büro im zehnten Stock der William James Hall ihren Tee trank, entspannte sie sich bei der Aussicht auf die Schönheit des Charles River und der Back Bay von Boston, umrahmt von einem riesigen, südöstlich ausgerichteten Fenster. Es war eineAussicht, die schon viele Künstler und Fotografen in Öl, Aquarell und auf Zelluloid festgehalten hatten und die mattiert und gerahmt an den Wänden von Bürogebäuden in ganz Boston und Umgebung zu finden war.
    Alice wusste die wundervollen Vorzüge zu schätzen, die denjenigen zuteilwurden, die das Glück hatten, die Live-Version dieser Landschaft regelmäßig betrachten zu können. Mit jeder Tages- und Jahreszeit änderten sich die Art und die Bewegung innerhalb des Bildes in ihrem Fenster immer wieder auf eine neue, interessante Weise. An diesem sonnigen Novembermorgen zeigte Alice’ »Ansicht von Boston von der WJH: Herbst« das funkelnde Sonnenlicht, das wie Champagner an dem blassblauen Glas des John-Hancock-Gebäudes abperlte, und mehrere Skullboote, die über einen glatten, silbrigen Charles River gleichmäßig in Richtung Wissenschaftsmuseum glitten, als würden sie in einem Bewegungsexperiment an Schnüren gezogen.
    Die Aussicht vermittelte ihr außerdem ein gesundes Bewusstsein für das Leben außerhalb von Harvard. Ein kurzer Blick auf das rot-weiße Citgo-Neonschild, das vor einem sich verdunkelnden Himmel über dem Fenway Park blinkte, beflügelte ihr Nervensystem wie das plötzliche Klingeln eines Weckers, riss sie aus der alltäglichen Trance ihrer Ambitionen und Verpflichtungen und löste Gedanken an die Rückkehr nach Hause aus. Vor Jahren, bevor sie ihre Festanstellung erhielt, war ihr Büro ein kleiner, fensterloser Raum auf der Innenseite des Gebäudes gewesen. Ohne visuellen Zugang zu der Welt hinter den massiven beigefarbenen Wänden hatte Alice oft bis spät in die Nacht gearbeitet, ohne es zu merken. Mehr als einmal hatte sie am Ende eines Tages verblüfft

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