Mein Leben Ohne Gestern
im Februar verabscheuen, wenn sie ihre Schneeschaufel und ihre Stiefel verfluchte und es kaum erwarten konnte, dass der eisige, eintönige Winter dem sanfteren Rosa und Gelbgrün des Frühlings wich. Aber heute Abend wäre Schnee etwas Wunderbares.
Jedes Jahr richteten Eric und seine Frau Marjorie eine Weihnachtsfeier für das ganze Institut für Psychologie aus. Nichts Außergewöhnliches fand bei diesen Feiern je statt, aber es gab immer kleine Augenblicke, die Alice um nichts in der Welt missen wollte: Eric, wie er gemütlich auf dem Boden des Wohnzimmers saß, inmitten von Studenten und jüngeren Dozenten auf Sofas und Stühlen, Kevin und Glen, die sich um den Besitz einer Grinch-Puppe balgten, die gegen einen Yankee eingetauscht worden war, das Gerangel, um ein Stück von Martys legendärem Käsekuchen abzubekommen.
Ihre Kollegen waren allesamt hochintelligent und verschroben, hilfsbereit und streitlustig, ehrgeizig und bescheiden. Sie waren ihre Familie. Vielleicht empfand sie es so, weil sie selbst keine lebenden Eltern oder Geschwister mehr hatte.Vielleicht war es die Jahreszeit, die sie sentimental stimmte, und sie entsprechend nach Bedeutung und Zugehörigkeit suchen ließ. Vielleicht war es zum Teil das alles, aber es war noch weitaus mehr.
Sie waren mehr als Kollegen. Triumphale Entdeckungen, Beförderungen und Veröffentlichungen wurden gefeiert, aber auch Hochzeiten und Geburten und die Leistungen ihrer Kinder und Enkelkinder. Sie reisten gemeinsam zu Konferenzen auf der ganzen Welt, und viele verbanden das mit einem Familienurlaub. Und wie in jeder Familie gab es nicht immer nur gute Zeiten und köstlichen Käsekuchen. Sie standen einander bei, wenn negative Daten sie zurückwarfen und Fördermittel abgelehnt wurden, durch Phasen lähmender Selbstzweifel, durch Krankheit und Scheidung.
Aber vor allem verband sie die leidenschaftliche Suche, den Verstand zu begreifen, die Mechanismen zu ergründen, die das menschliche Verhalten und die Sprache, die Emotionen und den Appetit steuerten. Und auch wenn der Heilige Gral dieser Suche individuelle Macht und Anerkennung mit sich brachte, war es im Grunde doch ein gemeinsames Bestreben, etwas Wertvolles in Erfahrung zu bringen und an die Welt weiterzugeben. Es war Sozialismus, angetrieben vom Kapitalismus. Es war ein seltsames, ehrgeiziges, hochgeistiges und privilegiertes Leben. Und sie lebten es alle gemeinsam.
Da von dem Käsekuchen nichts mehr übrig war, schnappte sich Alice den letzten Schokoladen-Sahne-Windbeutel und machte sich auf die Suche nach John. Sie fand ihn im Wohnzimmer, im Gespräch mit Eric und Marjorie, und Dan stieß gerade zu ihnen.
Dan machte sie mit seiner jungen Ehefrau Beth bekannt, und sie sprachen ihre herzlichsten Glückwünsche aus und gaben ihnen die Hand. Marjorie nahm ihnen die Mäntel ab. Dan trug Anzug und Krawatte und Beth ein knöchellanges, rotes Kleid. Sie kamen spät, und sie waren zu förmlich angezogenfür diese Party, und Alice vermutete, dass sie von einer anderen Veranstaltung kamen. Eric bot an, ihnen Drinks zu holen.
»Ich nehme auch noch einen«, sagte Alice, obwohl das Weinglas in ihrer Hand noch halb voll war.
John fragte Beth, wie ihr das Eheleben bis jetzt gefiele. Alice und sie hatten sich bisher nicht kennengelernt, aber Dan hatte Alice ein wenig von ihr erzählt. Sie und Dan hatten in Atlanta bereits zusammengelebt, als Dan die Stelle in Harvard annahm. Sie blieb dort, anfangs zufrieden mit einer Fernbeziehung und der Aussicht auf eine Heirat nach seinem Abschluss. Drei Jahre später erwähnte Dan leichthin, es könne wohl auch fünf oder sechs, vielleicht sogar sieben Jahre dauern, bis er fertig sei. Sie hatten im vergangenen Monat geheiratet.
Alice entschuldigte sich, um die Toilette aufzusuchen. Auf dem Weg dorthin hielt sie in dem langen Korridor inne, der den neueren, vorderen Teil des Hauses mit dem älteren, rückwärtigen Teil verband, und trank ihren Wein und aß ihren Windbeutel auf, während sie die glücklichen Gesichter von Erics Enkelkindern an den Wänden bewunderte. Nachdem sie die Toilette gefunden und benutzt hatte, schlenderte sie in die Küche, schenkte sich noch ein Glas Wein ein und ließ sich in die ausgelassene Unterhaltung mehrerer Ehefrauen von Kollegen ziehen.
Sie berührten sich mit den Ellenbogen und Schultern, während sie in der Küche umherliefen, sie kannten die Figuren in den Geschichten der jeweils anderen, sie bewunderten und neckten sich, sie lachten
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