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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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hätte? Oder war es ihr Vater?
    Als er jünger war, hatte er Unmengen von Alkohol getrunken, ohne dass er je wirklich betrunken zu sein schien. Dann wurde er nur immer stiller und in sich gekehrter, besaß aber immer noch genügend kommunikative Fähigkeiten, um sich den nächsten Whiskey zu bestellen oder beharrlich zu erklären, er könne noch fahren. Wie an dem Abend, an dem er seinen Buick von der Route 93 gegen einen Baum fuhr und seine Frau und seine jüngere Tochter tötete.
    Seine Trinkgewohnheiten änderten sich nie, sein Verhalten hingegen schon, vor vermutlich etwa fünfzehn Jahren. Die unsinnigen, kampflustigen Tiraden, ein ekelerregender Mangel an Hygiene, die Tatsache, dass er nicht wusste, wer sie, Alice, war – Alice war immer davon ausgegangen, dass es der Alkohol war, der letztendlich seinen Tribut von seiner Säuferleber und seinem Trinkerhirn forderte. War es möglich, dass er mit der Alzheimer-Krankheit gelebt hatte, ohne dass sie je bei ihm diagnostiziert wurde? Sie brauchte keine Autopsie. Es passte alles zu genau, um nicht wahr zu sein, und es bot ihr eine ideale Zielscheibe, auf die sie ihre Vorwürfe richten konnte.
    Na, Dad, bist du jetzt zufrieden? Ich habe deine lausige DNA bekommen. Du wirst uns alle umbringen. Wie fühlt man sich denn, wenn man seine ganze Familie auslöscht?
    Ihr Tränenausbruch, so plötzlich und schmerzerfüllt, hätte keinen Außenstehenden verwundert, der die Szene beobachtete – ihre toten Eltern und ihre Schwester, die hier unter der Erde lagen, der Friedhof in der Dämmerung, die unheimliche Buche. John hingegen musste völlig überrumpelt davon sein. Sie hatte seit dem letzten Februar nicht eine Träne über den Tod ihres Vaters vergossen, und ihren Schmerz über den Verlust ihrer Mutter und ihrer Schwester hatte die Zeit längst gelindert.
    Er hielt sie fest, ohne auf sie einzureden, sie solle aufhören, ohne anzudeuten, er könnte sie irgendwann nicht mehr halten, solange sie noch weinte. Ihr war bewusst, dass der Friedhof jeden Augenblick schließen würde. Ihr war bewusst, dass sie John vermutlich beunruhigte. Ihr war bewusst, dass selbst noch so viele Tränen ihr verseuchtes Gehirn nicht reinwaschen würden. Sie presste ihr Gesicht fester in seine dicke Wolljacke und weinte, bis sie erschöpft war.
    Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und küsste auf beiden Seiten ihre nassen Augenwinkel.
    »Ali, alles okay mit dir?«
    Nichts ist okay, John. Ich habe die Alzheimer-Krankheit .
    Fast dachte sie, sie hätte die Worte laut ausgesprochen, aber das hatte sie nicht getan. Sie blieben in ihrem Kopf eingeschlossen, aber nicht, weil sie von Plaques und Tangles verbarrikadiert waren. Sie brachte es einfach nicht über sich.
    Sie stellte sich ihren eigenen Namen auf einem passenden Grabstein neben Annes vor. Sie würde lieber sterben, als den Verstand zu verlieren. Sie sah zu John hoch, sah seinen geduldigen Blick, der auf eine Antwort wartete.
    Wie konnte sie ihm sagen, dass sie Alzheimer hatte? Er liebte ihren Verstand. Wie könnte er sie mit dieser Krankheit noch lieben? Sie sah zurück auf Annes in Stein gemeißelten Namen.
    »Ich habe nur einen richtig schlechten Tag.«
    Sie würde lieber sterben, als es ihm zu sagen.

    Sie wollte sich umbringen. Spontane Selbstmordgedanken brachen mit voller Wucht über sie herein, überwältigten und verdrängten alle anderen Ideen, hielten sie tagelang in einer dunklen und trostlosen Ecke gefangen. Aber sie besaßen keine Ausdauer und schwächten sich bald zu einem bedeutungslosenFlirt ab. Sie wollte noch nicht sterben. Sie war noch immer eine angesehene Professorin für Psychologie an der Harvard-Universität. Sie konnte noch immer lesen und schreiben und ordentlich auf die Toilette gehen. Sie hatte Zeit. Und sie musste es John sagen.
    Sie saß auf der Couch, eine graue Decke über den Beinen, hielt ihre Knie umschlungen und glaubte, sich vielleicht gleich übergeben zu müssen. Er saß auf der Kante des Ohrensessels, ihr gegenüber, und verharrte völlig reglos.
    »Wer hat dir das gesagt?«, fragte John.
    »Dr. Davis, er ist Neurologe im Mass General.«
    »Ein Neurologe. Wann denn?«
    »Vor zehn Tagen.«
    Er wandte den Kopf ab und spielte mit seinem Ehering, während er tat, als würde er die Farbe an der Wand begutachten. Sie wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass er sie wieder ansah. Vielleicht würde er sie nie wieder so ansehen wie früher. Vielleicht würde sie nie wieder atmen. Sie schlang die Arme etwas fester

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