Mein Leben Ohne Gestern
untersucht?«
»Nein. Ich dachte, er sei einfach ein Trinker.«
»Was würden Sie sagen, wann diese Veränderungen begannen?«
»Etwa mit Anfang fünfzig.«
»Er war jeden Tag stockbetrunken. Er ist an einer Zirrhose gestorben, nicht an Alzheimer«, sagte John.
Alice und Stephanie hielten kurz inne, einigten sichstillschweigend darauf, ihn denken zu lassen, was er wollte, und setzten das Gespräch fort.
»Haben Sie Geschwister?«
»Meine einzige Schwester starb bei diesem Verkehrsunfall zusammen mit meiner Mutter, als sie sechzehn war. Brüder habe ich keine.«
»Wie sieht es mit Tanten, Onkeln, Cousins, Cousinen, Großeltern aus?«
Alice gab ihr die unvollständigen Informationen, die sie über die Krankengeschichten und Todesumstände ihrer Großeltern und anderer Verwandter hatte.
»Okay, wenn Sie keine anderen Fragen an mich haben, dann wird gleich eine Schwester kommen und Ihnen etwas Blut abnehmen. Wir werden die Probe zur Sequenzierung einschicken und müssten die Ergebnisse in ein paar Wochen haben.«
Alice starrte aus dem Fenster, während sie den Storrow Drive hinunterfuhren. Draußen war es eisig kalt, um halb sechs schon dunkel, und sie sah niemanden, der am Ufer des Charles River den Elementen trotzte. Keine Anzeichen von Leben. John hatte die Stereoanlage ausgeschaltet. Nichts konnte sie von ihren Gedanken an beschädigte DNA und nekrotisches Gehirngewebe ablenken.
»Es wird negativ sein, Ali.«
»Aber das würde nichts ändern. Es würde nicht heißen, dass ich es nicht habe.«
»Streng genommen nicht, aber es lässt uns doch weitaus mehr Spielraum, um zu überlegen, was es sonst noch sein könnte.«
»Zum Beispiel, was? Du hast doch mit Dr. Davis gesprochen. Er hat mich bereits auf jede Ursache von Demenz getestet, die dir eingefallen ist.«
»Hör mal, ich glaube, es war etwas voreilig von dir, gleich zu einem Neurologen zu gehen. Ich meine, er sieht sich deine Symptome an und sieht Alzheimer, aber schließlich wurde erdafür ausgebildet, das zu sehen; das heißt nicht unbedingt, dass er recht hat. Weißt du noch, als du dir letztes Jahr das Knie verletzt hast? Wenn du zu einem orthopädischen Chirurgen gegangen wärst, hätte er einen Bänderriss oder einen abgenutzten Knorpel festgestellt, und er hätte dich aufschneiden wollen. Er ist Chirurg, daher ist für ihn eine Operation die Lösung. Aber du hast einfach für ein paar Wochen mit dem Laufen aufgehört, du hast deinem Knie Ruhe gegönnt, hast Ibuprofen genommen, und alles war wieder in Ordnung.
Ich glaube, du bist einfach nur erschöpft und gestresst, ich glaube, die hormonelle Umstellung deiner Menopause stellt deine Physiologie völlig auf den Kopf, und ich glaube, du bist depressiv. Wir können das alles in den Griff bekommen, Ali, wir müssen nur jeden Punkt einzeln angehen.«
Das klang einleuchtend. Es war unwahrscheinlich, dass jemand in ihrem Alter die Alzheimer-Krankheit hatte. Sie war in den Wechseljahren, und sie war erschöpft. Und vielleicht war sie ja auch tatsächlich depressiv. Das würde erklären, warum sie ihre Diagnose nicht entschiedener von sich gewiesen hatte, warum sie sich nicht mit aller Kraft allein schon gegen die Andeutung eines solchen Schicksalsschlags zur Wehr gesetzt hatte. Das sah ihr doch auch überhaupt nicht ähnlich. Vielleicht war sie tatsächlich nur gestresst, erschöpft, in den Wechseljahren und depressiv. Vielleicht hatte sie ja gar kein Alzheimer.
Donnerstag:
7.00 Uhr: Morgenmedikamente nehmen
Psychonomie-Review abschließen
11.00 Uhr Besprechung mit Dan, mein Büro
12.00 Uhr Lunch-Seminar, Raum 700
15.00 Uhr Termin Genetikberaterin (John hat Info)
20.00 Uhr Abendmedikamente nehmen
Stephanie saß hinter ihrem Schreibtisch, als sie eintraten, aber diesmal lächelte sie nicht.
»Bevor wir über Ihre Untersuchungsergebnisse sprechen: Haben Sie vielleicht noch irgendwelche Fragen zu dem, was wir beim letzten Mal besprochen haben?«, begann sie.
»Nein«, sagte Alice.
»Wollen Sie die Ergebnisse immer noch haben?«
»Ja.«
»Es tut mir leid, Alice, Ihnen sagen zu müssen, dass Sie positiv auf die PS1-Mutation getestet wurden.«
Und da war er, der unschlagbare Beweis, pur serviert, ohne Zucker, ohne Salz, ohne einen Schluck zum Nachspülen. Und er brannte ihr in der gesamten Kehle. Jetzt konnte sie anfangen, Cocktails aus Östrogenersatz, Xanax und Prozac zu kippen, und die nächsten sechs Monate damit verbringen, zwölf Stunden täglich auf der Canyon Ranch zu
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