Mein Leben Ohne Gestern
zweimaliges eindringliches Klopfen sie zwang, ihr Vorhaben mit einem blitzschnellen, unfreiwilligen Reflex abzubrechen und den Beweis zu vernichten. Ohne weitere Vorwarnung oder Abwarten einer Antwort ging die Tür auf.
Sie befürchtete, ihre Miene könnte Verblüffung, Angst, Verstellung verraten.
»Bist du so weit?«, fragte John.
Nein, sie war nicht so weit. Wenn sie John alles gestand, was Dr. Davis zu ihr gesagt hatte, wenn sie ihm den ADL-Fragebogen zu den Alltagsaktivitäten aushändigte, dann würde alles Wirklichkeit werden. John würde der Informant werden, undAlice würde die sterbende, inkompetente Patientin werden. Sie war nicht bereit, sich aufzugeben. Noch nicht.
»Komm schon, die Pforten schließen in einer Stunde«, sagte John.
»Okay«, sagte Alice. »Ich bin so weit.«
Gegründet im Jahr 1831 als Amerikas erster nichtkonfessioneller Parkfriedhof, stand der Mount Auburn inzwischen unter Denkmalschutz, eine weltberühmte Park- und Gartenlandschaft und die letzte Ruhestätte für Alice’ Schwester, Mutter und Vater.
Es war das erste Mal, dass ihr Vater am Jahrestag jenes verhängnisvollen Verkehrsunfalls anwesend sein würde, wenngleich tot, und das ärgerte sie. Es war immer ihr privater Besuch bei ihrer Mutter und ihrer Schwester gewesen. Jetzt würde er ebenfalls da sein. Das hatte er nicht verdient.
Sie gingen die Yew Avenue hinunter, durch einen älteren Teil des Friedhofs. Alice verlangsamte ihre Schritte, als ihr Blick an den vertrauten Grabsteinen der Familie Shelton hängen blieb. Charles und Elizabeth hatten alle drei ihrer Kinder zu Grabe getragen – Susie, noch ein Baby, vielleicht eine Totgeburt, im Jahr 1866, Walter, zwei Jahre alt, im Jahr 1868 und Carolyn, fünf Jahre alt, im Jahr 1874. Alice wagte sich Elizabeths Schmerz vorzustellen, indem sie in Gedanken die Namen ihrer eigenen Kinder auf die Grabsteine setzte. Sie konnte die makabren Bilder nie lange ertragen – Anna blau und bewegungslos bei ihrer Geburt, Tom tot, vermutlich infolge einer Krankheit, in seinem gelben Strampelschlafanzug und Lydia, steif und leblos, nachdem sie eben noch einen Tag lang im Kindergarten gemalt hatte. Vor den grauenhaftesten Details machte ihre Fantasie stets halt, und alle drei Kinder wurden rasch wieder so zum Leben erweckt, wie sie waren.
Elizabeth war achtunddreißig, als ihr letztes Kind starb. Alice fragte sich, ob sie erfolglos versucht hatte, noch mehr Kinder zu bekommen, oder ob sie und Charles vielleicht begonnen hatten, in getrennten Betten zu schlafen, voller Angst, womöglich noch einen weiteren winzigen Grabstein kaufen zu müssen. Sie fragte sich, ob Elizabeth, die Charles um zwanzig Jahre überlebt hatte, je wieder Trost oder Frieden in ihrem Leben gefunden hatte.
Sie gingen schweigend weiter zur Grabstätte ihrer Familie. Ihre Grabsteine waren schlicht, wie Schuhkartons von Riesen aus Granit, und standen in einer eigenen Reihe unter den Zweigen einer Rotbuche. Anne Lydia Daly 1955–1972, Sarah Louise Daly 1931–1972, Peter Lucas Daly 1932–2003. Die Buche mit ihren tief hängenden Zweigen ragte mindestens dreißig Meter über ihnen auf und trug im Frühling, Sommer und Herbst wunderschöne, glänzende, tief violett-grüne Blätter. Aber jetzt, im Januar, warfen ihre unbelaubten, schwarzen Zweige lange, verzerrte Schatten auf das Grab ihrer Familie und verliehen diesem Ort ein absolut unheimliches Aussehen. Jeder Horrorfilm-Regisseur wäre begeistert von diesem Baum im Januar.
John hielt ihre Hand, während sie unter dem Baum standen. Keiner von ihnen sprach. In den wärmeren Monaten hörten sie für gewöhnlich Vogelgezwitscher, Sprinkler, Friedhofsfahrzeuge und Musik aus Autoradios. Heute war der Friedhof still bis auf das ferne Rauschen des Verkehrs hinter seinen Pforten.
Worüber dachte John wohl immer nach, während sie hier standen? Sie hatte ihn nie danach gefragt. Er hatte ihre Mutter und Schwester nie kennengelernt, daher würde es ihm vermutlich schwerfallen, in Gedanken allzu lange bei ihnen zu verweilen. Dachte er über seine eigene Sterblichkeit oder Spiritualität nach? Über ihre? Dachte er an seine Eltern und Schwestern, die alle noch am Leben waren? Oder war er auf einem völlig anderen Stern, ging Einzelheiten seiner Forschung oder Lehre durch oder dachte schon ans Abendessen?
Wie war es bloß möglich, dass sie die Alzheimer-Krankheit hatte? Deutliche genetische Verbindung . Hätte ihre Mutter sie bekommen, wenn sie ihren Fünfzigsten erlebt
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