Mein Leben Ohne Gestern
Gedächtnisstörungen am Mass General Hospital zugeordnet war. Sie hatte schulterlanges schwarzes Haar und ausgeprägt gebogene Augenbrauen, die eine interessierte Offenheit vermittelten. Sie begrüßte sie und John mit einem warmen Lächeln.
»Nun, dann erzählen Sie mir bitte, was Sie heute zu mir führt«, sagte Stephanie.
»Meiner Frau wurde kürzlich mitgeteilt, sie hätte die Alzheimer-Krankheit, und wir wollen sie auf die APP-, PS1- und PS2-Mutationen screenen lassen.«
John hatte seine Hausaufgaben gemacht. In den letzten Wochen hatte er sich in Literatur über die molekulare Ätiologie der Alzheimer-Krankheit vergraben. Abweichende Proteine, die aus einem dieser drei mutierten Gene entstanden, waren die bekannten Schuldigen für die früh einsetzende Form der Erkrankung.
»Alice, sagen Sie mir, was erhoffen Sie sich von diesen Untersuchungen?«, fragte Stephanie.
»Nun ja, es scheint mir eine vernünftige Methode zu sein, um zu versuchen, meine Diagnose zu bestätigen. Auf jeden Fall vernünftiger als eine Gehirnbiopsie oder eine Autopsie.«
»Sind Sie besorgt, Ihre Diagnose könnte unzutreffend sein?«
»Wir halten das für durchaus möglich«, sagte John.
»Okay, dann werde ich mit Ihnen erst einmal durchgehen, was ein positives beziehungsweise negatives Mutationsscreening für Sie zu bedeuten hätte. Diese Mutationen sind voll penetrant, falls Sie also für APP, PS1 oder PS2 mutationspositiv sind, dann würde ich sagen, dass Ihre Diagnose damit zuverlässig bestätigt ist. Etwas komplizierter wird es allerdings, wenn Ihre Ergebnisse negativ ausfallen. Dann können wir im Grunde keine eindeutige Aussage treffen. Etwa fünfzig Prozent der Menschen mit früh einsetzender Alzheimer-Krankheit weisen in keinem dieser drei Gene eine Mutation auf. Das soll nicht heißen, dass sie kein Alzheimer haben oder dass ihre Krankheit nicht genetisch bedingt ist – es ist nur so, dass wir das Gen noch nicht kennen, auf dem die Mutation sitzt.«
»Liegt diese Zahl bei jemand in ihrem Alter nicht eher bei zehn Prozent?«, fragte John.
»Die Zahlen können bei jemand in ihrem Alter leicht abweichend sein, das stimmt. Aber wenn Alice’ Screening negativ ausfallen sollte, dann können wir leider trotzdem nicht mit Sicherheit ausschließen, dass sie die Krankheit hat. Unter denjenigen Menschen ihres Alters mit Alzheimer könnte sie zufällig zu dem kleineren Prozentsatz gehören, der eine Mutation auf einem Gen hat, das noch nicht identifiziert ist.«
Das war ebenso plausibel, vielleicht sogar noch umso mehr, wenn man Dr. Davis’ ärztliche Sicht mitberücksichtigte. Sie wusste, dass John das verstand, aber seine Interpretation entsprach der Nullhypothese eines »Alice hat nicht die Alzheimer-Krankheit, unser Leben ist nicht zerstört«, Stephanies hingegen nicht.
»Alice, klingt das für Sie alles einleuchtend?«, fragte Stephanie.
Auch wenn die Frage in diesem Kontext durchaus berechtigt war, war Alice dennoch gekränkt und sah bereits die Verbindung zu Gesprächen, die sie in Zukunft führen würde. Warsie ausreichend fähig, zu begreifen, was gesagt wurde? War ihr Gehirn bereits zu geschädigt und sie zu verwirrt, um zu diesem oder jenem ihre Einwilligung zu geben? Sie war stets mit großem Respekt behandelt worden. Wenn ihre geistige Kraft zunehmend von einer geistigen Krankheit ersetzt wurde, was würde diesen großen Respekt dann ersetzen? Mitleid? Herablassung? Verlegenheit?
»Ja«, sagte Alice.
»Ich möchte außerdem klarstellen, dass eine genetische Diagnose nichts an Ihrer Behandlung oder Prognose ändern wird, sollte Ihr Mutationsscreening positiv ausfallen.«
»Das ist mir bewusst.«
»Gut. Dann erzählen Sie mir erst einmal von Ihrer Familie. Alice, sind Ihre Eltern noch am Leben?«
»Nein. Meine Mutter kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als sie einundvierzig war, und mein Vater starb letztes Jahr mit einundsiebzig an Leberversagen.«
»Wie war das Gedächtnis der beiden, als sie noch am Leben waren? Waren bei einem von ihnen Anzeichen von Demenz oder Veränderungen der Persönlichkeit zu erkennen?«
»Meine Mutter war bei bester Gesundheit. Mein Vater war sein Leben lang Alkoholiker. Er war immer ein ruhiger Mann gewesen, aber mit zunehmendem Alter wurde er extrem launisch, und es wurde unmöglich, ein zusammenhängendes Gespräch mit ihm zu führen. Ich glaube nicht, dass er mich in den letzten Jahren überhaupt noch erkannt hat.«
»Wurde er je von einem Neurologen
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