Mein Leben Ohne Gestern
herauf, als würde sie sich irgendwo in einer osteuropäischen Stadt versteckt halten, im Besitz illegaler Dokumente, und als sei die Polizei mit heulenden Sirenen bereits auf dem Weg zu ihr.
Die Bewertungsskala für jede Aktivität reichte von 0 (keine Probleme, so wie immer) bis 3 (schwer beeinträchtigt, völlig abhängig von anderen). Sie überflog rasch die Beschreibungen neben den dreien und nahm an, dass sie für das Endstadium dieser Krankheit galten, das Ende dieser kurzen und geraden Straße, auf der sie sich auf einmal gegen ihren Willen in einem Wagen ohne Bremsen oder Lenkrad wiederfand.
Nummer 3 war eine demütigende Liste: Muss die meiste Nahrung zugeführt bekommen. Hat keine Kontrolle über Stuhlgang oder Blase. Muss Medikamente von Dritten verabreicht bekommen. Leistet Widerstand dagegen, von der Pflegekraft gewaschen und zurechtgemacht zu werden. Arbeitet nicht mehr. Ist ans Haus oder Krankenhaus gebunden. Geht nicht mehr mit Geld um. Geht nicht mehr unbegleitet aus dem Haus. Demütigend, aber ihr analytischer Verstand bezweifelte augenblicklich, dass diese Liste für ihren eigenen Krankheitsverlauf relevant war. Wie viel von dieser Liste war tatsächlichauf das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit zurückzuführen und wie viel durch das überwiegend hohe Alter der Betroffenen bedingt? Waren die Achtzigjährigen inkontinent, weil sie Alzheimer hatten oder weil sie achtzig Jahre alte Blasen hatten? Vielleicht würden die unter 3 aufgeführten Punkte auf jemand wie sie nicht zutreffen, jemand, der so jung und körperlich fit war.
Das Schlimmste kam unter der Überschrift »Kommunikation«. Sprechweise ist nahezu unverständlich. Versteht nicht, was andere Menschen sagen. Hat das Lesen aufgegeben. Schreibt nie. Keine Sprache mehr. Abgesehen von einer Fehldiagnose konnte sie keine Hypothese formulieren, die sie immun gegen diese 3er-Liste machen würde. Es konnte alles auf jemand wie sie zutreffen. Jemand mit Alzheimer.
Ihr Blick fiel auf die Reihen mit Büchern und Fachzeitschriften in ihrem Bücherschrank, den Stapel mit Abschlussarbeiten, die sie korrigieren musste, auf ihrem Schreibtisch, die E-Mails in ihrem Posteingangsfach, das rot blinkende Licht des Anrufbeantworters auf ihrem Telefon. Sie dachte an all die Bücher, die sie schon immer hatte lesen wollen, die das oberste Regal in ihrem Schlafzimmer zierten und von denen sie immer glaubte, später noch Zeit dafür zu haben. Moby Dick . Sie hatte Versuche durchzuführen, Aufsätze zu schreiben, Vorträge zu halten und zu besuchen. Alles, was sie tat und liebte, alles, was sie war, erforderte Sprache.
Auf den letzten Seiten des Fragebogens wurde der Informant gebeten, die Schwere der folgenden Symptome zu bewerten, die der Patient im vergangenen Monat erlebt hatte: Sinnestäuschungen, Halluzinationen, Erregung, Depression, Angst, Euphorie, Apathie, Enthemmung, Reizbarkeit, wiederholt auftretende motorische Störungen, Schlafstörungen, Änderungen der Essgewohnheiten. Sie war in Versuchung, die Antworten selbst einzutragen, um zu zeigen, dass mit ihr alles in Ordnung war und dass Dr. Davis sich irren musste. Dann fielen ihr Dr. Davis’Worte wieder ein. Sie selbst sind vielleicht nicht die zuverlässigste Quelle für das, was passiert ist . Vielleicht nicht, aber andererseits konnte sie sich immer noch erinnern, dass er das gesagt hatte. Sie fragte sich, wann wohl der Zeitpunkt kommen würde, an dem sie sich nicht mehr erinnern würde.
Zugegeben, ihr Wissen über die Alzheimer-Krankheit war sehr begrenzt. Sie wusste, dass die Gehirne von Alzheimer-Patienten verringerte Acetylcholinwerte hatten, ein Neurotransmitter, der für das Lernen und das Gedächtnis wichtig war. Und sie wusste, dass der Hippocampus, eine seepferdchenförmige Struktur im Gehirn, die für die Bildung neuer Erinnerungen zuständig war, durch Plaques und Tangles verklebt wurde, auch wenn sie nicht wirklich verstand, was genau Plaques und Tangles eigentlich waren. Sie wusste, dass Anomie, eine krankhafte Wortfindungsstörung, ein anderes typisches Symptom war. Und sie wusste, dass sie eines Tages ihren Ehemann ansehen würde, ihre Kinder, ihre Kollegen, Gesichter, die sie seit Ewigkeiten kannte und liebte, und sie nicht mehr erkennen würde.
Und sie wusste, dass noch mehr auf sie wartete. Es gab schichtenweise beängstigenden Schmutz abzutragen. Sie gab den Begriff »Alzheimer-Krankheit« bei Google ein. Ihr Mittelfinger schwebte schon über der Returntaste, als ein
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