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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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er.
    Vermutlich seine Brille. Seit ihrem Besuch bei der Genetikberaterin vor einem Monat hatte er aufgehört, sie zu bitten, ihr bei der Suche nach seiner Brille und seinem Schlüssel behilflich zu sein, obwohl sie wusste, dass er sie noch immer ständig verlegte.
    Mit raschen, ungeduldigen Schritten kam er in die Küche.
    »Kann ich dir helfen?«, fragte sie.
    »Nein, schon gut.«
    Sie fragte sich, wieso er sich auf einmal so stur unabhängig von ihr machte. Versuchte er, ihr die geistige Belastung zu ersparen, seine eigenen verlegten Dinge ausfindig zu machen? Übte er schon einmal für seine Zukunft ohne sie? War es ihm einfach zu peinlich, eine Alzheimer-Patientin um Hilfe zu bitten? Sie schlürfte ihren Tee, vertieft in das Gemälde eines Apfels und einer Birne, das seit mindestens einem Jahrzehnt an der Wand hing, und hörte zu, wie er hinter ihr am Küchentresen die Post und die Zeitungen durchsah.
    Er ging an ihr vorbei in die Diele. Sie hörte die Tür des Dielenschranks aufgehen. Sie hörte die Tür des Dielenschranks zugehen. Sie hörte die Schubladen des Dielentischs auf- und zugehen.
    »Bist du so weit?«, rief er.
    Sie trank ihren Tee aus und folgte ihm in die Diele. Er hatte seinen Mantel an, die Brille in sein zerzaustes Haar hochgeschoben und die Schlüssel in der Hand.
    »Ja«, sagte Alice und folgte ihm nach draußen.
    Der Frühlingsanfang in Cambridge war ein unberechenbarer und hässlicher Lügner. Keine Knospe zeigte sich an den Bäumen, keine Tulpe war dumm oder tapfer genug, um aus der monatealten, verkrusteten Schneedecke zu sprießen, und kein Frühlingspfeifer quakte als Audiotrack im Hintergrund. Die Straßen waren noch immer verschmälert von schwarzgrauen, schmutzigen Schneehaufen. Der wenige Schnee, der in der relativen Mittagswärme schmolz, gefror mit den fallenden Temperaturen am Spätnachmittag erneut und verwandelte die Fußwege auf dem Harvard Yard und die Gehsteige in der Innenstadt in gefährliche schwarze Eispisten. Dem Kalenderdatum nach fühlten sich alle beleidigt oder betrogen, denn sie wussten, dass anderswo schon Frühling war und die Leute dort kurzärmelige Hemden trugen und zu dem Gezwitscher von Rotkehlchen aufwachten. Aber hier wollten Kälte und Elendeinfach nicht nachlassen, und die einzigen Vögel, die Alice auf ihrem Weg zum Campus hörte, waren Krähen.
    John hatte sich bereiterklärt, sie jeden Morgen zu Fuß nach Harvard zu begleiten. Sie hatte ihm gesagt, sie wolle nicht das Risiko eingehen, sich zu verlaufen. In Wirklichkeit wollte sie nur wie einst diese Zeit wieder mit ihm verbringen, wollte diese Morgentradition wiederbeleben. Aber da sie das Risiko, von einem Auto angefahren zu werden, geringer einschätzten als das, auf den eisglatten Gehsteigen auszurutschen und sich zu verletzen, liefen sie nun leider auf der Straße hintereinander her, ohne sich zu unterhalten.
    Ein Kieselstein piekste sie in ihrem rechten Stiefel. Sie überlegte, ob sie auf der Straße stehen bleiben sollte, um ihn zu entfernen, oder zu warten, bis sie bei Jerri’s waren. Um ihn herauszuholen, müsste sie auf der Straße auf einem Bein balancieren und gleichzeitig den anderen Fuß der eisigen Luft aussetzen. Sie entschied, das Unbehagen noch die letzten beiden Blocks zu ertragen.
    In der Mass Ave gelegen, etwa auf halbem Weg zwischen Porter und Harvard Square, war Jerri’s für die chronisch Koffeinsüchtigen in Cambridge zu einer Institution geworden, lange bevor überall Starbucks Einzug hielt. Das Angebot an Kaffee, Tee, Gebäckstücken und Sandwiches, das mit Kreide in Großbuchstaben auf der Tafel hinter dem Tresen stand, hatte sich seit Alice’ Studententagen nicht verändert. Nur die Preise hinter jedem Angebot ließen eine kürzliche Anpassung erkennen, mit Kreidestaub in Form eines rechteckigen Radiergummis umrissen und in einer Handschrift, die nicht zu dem Autor der Angebote links davon gehörte. Alice betrachtete verwirrt die Tafel.
    »Guten Morgen, Jess, einen Kaffee und ein Zimtscone, bitte«, sagte John.
    »Für mich dasselbe«, sagte Alice.
    »Du trinkst doch keinen Kaffee«, sagte John.
    »Doch.«
    »Aber nein. Sie nimmt einen Tee mit Zitrone.«
    »Ich will einen Kaffee und ein Scone.«
    Jess sah John abwartend an, ob er den Ball noch einmal zurückwerfen würde, aber das Spiel war entschieden.
    »Okay, zwei Kaffee und zwei Scones«, sagte Jess.
    Draußen nahm Alice einen Schluck. Er schmeckte bitter und unangenehm und wurde seinem köstlichen Duft kaum

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