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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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gerecht.
    »Und? Wie ist dein Kaffee?«, fragte John.
    »Wundervoll.«
    Auf dem Weg zum Campus trank Alice den Kaffee, den sie verabscheute, nur um ihn zu ärgern. Sie konnte es kaum erwarten, allein in ihrem Büro zu sein, wo sie den Rest dieses grässlichen Getränks einfach wegkippen konnte. Außerdem wollte sie unbedingt diesen Kieselstein aus ihrem Stiefel entfernen.

    Nachdem sie sich die Stiefel ausgezogen und den Kaffee weggeschüttet hatte, nahm sie sich ihr Posteingangsfach vor. Sie öffnete eine E-Mail von Anna.
    Hi, Mom, wir würden uns sehr gern mit euch zum Abendessen treffen, aber diese Woche ist es schlecht wegen Charlies Prozess. Wie
wär’s mit nächster Woche? Welche Tage passen dir und Dad? Wir können jeden Abend außer Donnerstag und Freitag.
    Anna
    Sie starrte auf den spöttisch blinkenden, einsatzbereiten Cursor auf ihrem Computerbildschirm und versuchte, sich die Worte für ihre Antwort zurechtzulegen. Die Umwandlungihrer Gedanken in Stimme, Stift oder Computertasten erforderte nun oft bewusste Anstrengung und stillen Zuspruch. Und sie hatte kaum noch Vertrauen in ihre Rechtschreibung, für deren meisterhafte Beherrschung sie vor langer Zeit von ihrer Lehrerin mit Goldsternchen und Lob bedacht worden war.
    Das Telefon klingelte.
    »Hi, Mom.«
    »Oh, gut. Ich wollte eben auf deine E-Mail antworten.«
    »Ich habe dir keine E-Mail geschickt.«
    Verunsichert las Alice noch einmal die Nachricht auf ihrem Bildschirm.
    »Ich habe sie eben gelesen. Charlie hat diese Woche einen Prozess …«
    »Mom, hier ist Lydia.«
    »Oh, was machst du denn so früh auf den Beinen?«
    »Ich bin um die Zeit immer auf den Beinen. Ich wollte dich und Dad gestern Abend anrufen, aber da war es bei euch schon zu spät. Ich habe eben eine unglaubliche Rolle in einem Stück namens Das Gedächtnis des Wassers bekommen. Es ist mit diesem umwerfenden Regisseur, und es wird im Mai sechs Vorstellungen haben. Ich glaube, das wird einfach toll, und bei diesem Regisseur werde ich sicher viel Aufmerksamkeit bekommen. Ich dachte, vielleicht hättet ihr beide, du und Dad, Lust, zu kommen und mich spielen zu sehen?«
    Der steigende Tonfall am Satzende und die Stille, die danach folgte, verrieten Alice, dass sie jetzt mit Reden an der Reihe war, aber sie war noch immer dabei, all das zu verarbeiten, was Lydia soeben gesagt hatte. Ohne die visuelle Unterstützung, ihr Gegenüber im Gespräch zu sehen, empfand sie Telefongespräche oft als verwirrend. Worte liefen manchmal ineinander, abrupte Themenwechsel konnte sie nur schwer vorausahnen oder nachvollziehen, und ihr Verständnis litt. Das Schreiben bereitete ihr zwar seine eigenen Probleme, aber daskonnte sie leichter vertuschen, weil sie nicht, wie in diesem Fall, zwangsläufig in Echtzeit antworten musste.
    »Wenn du nicht willst, dann sag’s einfach«, sagte Lydia.
    »Nein, ich will ja, aber …«
    »Oder wenn du zu viel zu tun hast, egal. Ich wusste, ich hätte Dad anrufen sollen.«
    »Lydia …«
    »Egal, ich muss los.«
    Sie legte auf. Alice hatte ihr eben sagen wollen, sie müsse John fragen, und wenn er sich vom Labor freimachen könne, würde sie sehr gerne kommen. Wenn er nicht konnte, dann würde sie allerdings nicht ohne ihn quer durchs Land fliegen, und dann würde sie sich irgendeine Ausrede einfallen lassen müssen. Sie hatte inzwischen Angst davor, weit entfernt von ihrem Zuhause die Orientierung zu verlieren oder sich zu verlaufen, und vermied daher das Reisen. Sie hatte ein Angebot abgelehnt, im nächsten Monat einen Vortrag an der Duke-Universität zu halten, und sie hatte die Anmeldeunterlagen für eine Sprachkonferenz weggeworfen, an der sie seit ihren Studententagen jedes Jahr teilgenommen hatte. Sie wollte Lydias Stück gern sehen, aber diesmal würde ihre Anwesenheit davon abhängen, ob John Zeit haben würde.
    Sie hielt das Telefon in der Hand und überlegte, ob sie versuchen sollte, sie zurückzurufen. Dann entschied sie sich dagegen und legte auf. Sie schloss ihre noch ungeschriebene Antwort an Anna und öffnete stattdessen eine neue E-Mail an Lydia. Sie starrte auf den blinkenden Cursor, die Finger reglos auf der Tastatur. Die Batterie in ihrem Gehirn war heute einfach nicht aufgeladen.
    »Komm schon«, befahl sie sich und wünschte, sie könnte einfach ein paar Starthilfekabel an ihren Kopf klemmen und sich mit einem kräftigen Ruck in Gang bringen.
    Sie hatte heute keine Zeit für Alzheimer. Sie hatte E-Mails zu beantworten, einen Antrag auf

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