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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Fördermittel zu stellen,einen Kurs zu geben und ein Seminar zu besuchen. Und am Ende des Tages eine Runde zu laufen. Das Laufen würde ihr vielleicht helfen, einen klaren Kopf zu bekommen.

    Alice steckte sich ein Blatt Papier mit ihrem Namen, ihrer Adresse und ihrer Telefonnummer in eine Socke. Natürlich, wenn sie so verwirrt sein sollte, dass sie nicht mehr nach Hause fand, dann würde sie vielleicht auch nicht die Geistesgegenwart besitzen, sich zu erinnern, dass sie diese hilfreichen Informationen auf einem Blatt Papier am Körper trug. Aber es war eine Vorsichtsmaßnahme, die sie trotzdem ergriff.
    Das Laufen half ihr in letzter Zeit immer weniger, einen klaren Kopf zu bekommen. Tatsächlich hatte sie inzwischen eher das Gefühl, als würde sie rein physisch den Antworten auf einen endlosen Strom flüchtender Fragen hinterherjagen. Und egal, wie schnell sie sprintete, sie konnte sie nicht einholen.
    Was soll ich bloß machen? Sie nahm ihre Medikamente, sie schlief jede Nacht sechs bis sieben Stunden, und sie klammerte sich an die Normalität des Alltagslebens in Harvard. Sie kam sich wie eine Schwindlerin vor, die sich als Harvard-Professorin ohne fortschreitende neurodegenerative Krankheit ausgab, eine Frau, die jeden Tag arbeiten ging, als sei alles in bester Ordnung und würde immer so weitergehen.
    Es gab nicht viele Bewertungsinstrumente für die allgemeine Arbeitsleistung oder Pflichterfüllung im Leben eines Professors. Sie hatte keine Bilanzen aufzustellen, keine bestimmten Quoten von irgendetwas zu erfüllen, keine schriftlichen Berichte einzureichen. Es gab Spielraum für Irrtümer, aber wie viel? Letztendlich würde sich ihre Leistungsfähigkeit so weit verschlechtern, dass es auffallen und nicht mehr geduldet werden würde. Sie wollte Harvard vor diesem Zeitpunkt verlassen, vor dem Getratsche und dem Mitleid, aber sie konnte nichteinmal annähernd abschätzen, wann dieser Zeitpunkt ungefähr gekommen sein würde.
    Und auch wenn ihr bei dem Gedanken graute, vielleicht zu lange zu bleiben, graute ihr bei dem Gedanken, Harvard zu verlassen, noch um einiges mehr. Wer war sie, wenn sie keine Harvard-Professorin für Psychologie mehr war?
    Sollte sie versuchen, so viel Zeit wie möglich mit John und ihren Kindern zu verbringen? Was würde das konkret bedeuten? Bei Anna zu sitzen, während sie ihre Rechtssachen tippte, Tom auf seinen Visiten zu begleiten, Lydia bei ihrem Schauspielunterricht zuzusehen? Wie sollte sie ihnen beibringen, dass sie alle mit fünfzigprozentiger Wahrscheinlichkeit dasselbe durchmachen würden? Was, wenn sie ihr Vorwürfe machten und sie hassten, so wie sie selbst ihrem Vater Vorwürfe gemacht und ihn gehasst hatte?
    Es war zu früh für John, sich pensionieren zu lassen. Wie viel Zeit konnte er sich realistisch freinehmen, ohne sich seine eigene Karriere zu verbauen? Wie viel Zeit blieb ihr noch? Zwei Jahre? Zwanzig?
    Obwohl die früh einsetzende Alzheimer-Krankheit für gewöhnlich schneller voranschritt als die spät einsetzende Form, lebten Leute mit der früh einsetzenden Form im Allgemeinen viele Jahre länger mit der Krankheit, da diese Krankheit des Geistes in diesen Fällen in relativ jungen und gesunden Körpern wohnte. Womöglich würde sie bis zu ihrem brutalen Ende damit leben müssen. Sie würde außerstande sein, selbstständig zu essen, außerstande zu reden, außerstande, John und ihre Kinder zu erkennen. Sie würde zusammengerollt wie ein Embryo daliegen, und da sie vergessen würde, wie man schluckte, würde sie eine Lungenentzündung bekommen. Und John, Anna, Tom und Lydia würden sich darauf einigen, sie nicht mit einfachen Antibiotika zu behandeln, gequält von Schuldgefühlen, da sie im Grunde dankbar waren, dass endlich etwas gekommen war, das ihren Körper töten würde.
    Sie hörte auf zu laufen, beugte sich vornüber und erbrach die Lasagne, die sie zu Mittag gegessen hatte. Es würde noch ein paar Wochen dauern, bis genügend Schnee geschmolzen war, um sie wegzuspülen.

    Sie wusste genau, wo sie war. Sie war auf dem Weg nach Hause, vor der Allerheiligen-Episkopalkirche, nur ein paar Blocks entfernt von ihrem Haus. Sie wusste genau, wo sie war, und doch hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie so verloren gefühlt. Die Kirchenglocken begannen eine Melodie zu läuten, die sie an die Uhr ihrer Großeltern erinnerte. Sie drehte den runden, eisernen Knauf an der tomatenroten Tür und folgte ihrem Impuls, ins Innere der Kirche zu gehen.
    Sie war

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