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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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»Mooom, Tommy fasst mich an!«
    »Ich habe die Mutation nicht«, sagte Tom.
    »Aber ich«, sagte Anna.
    Nach Toms Geburt, entsann sich Alice, hatte sie sich so gefreut, dass sie das Ideale hatten, einen Jungen und ein Mädchen. Es sollte sechsundzwanzig Jahre dauern, bis sich dieser Segen in einen Fluch verwandelte. Alice’ Fassade stoischermütterlicher Kraft begann zu bröckeln, und sie brach in Tränen aus.
    »Es tut mir leid«, sagte Alice.
    »Keine Sorge, Mom, du hast doch selbst gesagt, sie werden schon eine präventive Behandlung finden«, sagte Anna.
    Als Alice später darüber nachdachte, war die Ironie schon verblüffend. Zumindest nach außen hin schien Anna die Stärkste zu sein. Hauptsächlich war sie es immer gewesen, die den anderen Trost spendete. Und doch wunderte es sie nicht wirklich. Anna war das Kind, das ihrer Mutter am meisten ähnelte. Sie hatte Alice’ Haar, Teint und Temperament. Und das Präsenilin-1 ihrer Mutter.
    »Ich werde trotzdem mit invitro weitermachen. Ich habe schon mit meinem Arzt gesprochen, und sie werden eine präimplantative genetische Diagnose von den Embryos erstellen. Sie werden von jedem der Embryos eine einzelne Zelle auf die Mutation untersuchen und nur diejenigen einpflanzen, die mutationsfrei sind. Auf die Weise werden wir mit Sicherheit wissen, dass meine Kinder es niemals bekommen werden.«
    Das war nun wirklich eine rundum gute Neuigkeit. Aber während alle anderen sie noch auskosteten, wurde ihr Geschmack in Alice’ Mund bereits leicht bitter. Trotz ihrer Selbstvorwürfe beneidete sie Anna darum, dass sie tun konnte, was Alice nicht konnte – ihre Kinder vor Schaden bewahren. Anna würde nie vor ihrer Tochter, ihrer Erstgeborenen, sitzen und zusehen müssen, wie sie verzweifelt versuchte, die Nachricht zu verdauen, dass sie eines Tages Alzheimer bekommen würde. Sie wünschte, diese Fortschritte in der Fortpflanzungsmedizin hätte es für sie damals schon gegeben. Aber dann wäre der Embryo, aus dem sich Anna entwickelt hatte, entsorgt worden.
    Stephanie Aaron zufolge war Tom gesund, aber so sah er nicht aus. Er sah blass, erschüttert und zerbrechlich aus. Alice hatte angenommen, ein negatives Ergebnis würde für jedenvon ihnen eine Erleichterung sein, nicht mehr und nicht weniger. Aber sie waren eben eine Familie, verbunden durch ihre Geschichte, ihre DNA und ihre Liebe. Anna war seine ältere Schwester. Sie hatte ihm beigebracht, Kaugummiblasen zu machen und platzen zu lassen, und sie hatte ihm immer von ihren Halloween-Süßigkeiten abgegeben.
    »Wer wird es Lydia sagen?«, fragte Tom.
    »Ich mache das«, sagte Anna.

MAI 2004
    In der Woche nach ihrer Diagnose hatte sich Alice zum ersten Mal überlegt, einen Blick zu riskieren, hatte es dann aber doch nicht getan. Glückskekse, Horoskope, Tarotkarten und betreutes Wohnen – nichts davon konnte ihr Interesse wecken. Auch wenn die Zukunft jeden Tag näher rückte, hatte sie es dennoch nicht eilig, einen Blick in diese Zukunft zu werfen. Und an diesem Morgen war auch nichts Bestimmtes passiert, um in ihr die Neugier oder den Mut zu wecken, einen Blick in das Pflegeheim Mount Auburn Manor zu werfen. Aber heute tat sie es doch.
    Der Eingangsbereich hatte nichts Abschreckendes. Ein Aquarell mit einer Meeresansicht hing an der Wand, ein verblichener Orientteppich lag auf dem Boden, und eine Frau mit stark geschminkten Augen und kurzem, lakritzschwarzem Haar saß hinter einem Tresen schräg gegenüber der Eingangstür. Man hätte den Eingangsbereich fast mit dem eines Hotels verwechseln können, nur der leicht medizinische Geruch und das Fehlen von Gepäckstücken, einem Empfangschef und dem allgemeinen Kommen und Gehen passte nicht dazu. Die Leute, die hierblieben, waren Bewohner, keine Gäste.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau.
    »Äh, ja. Pflegen Sie hier auch Alzheimer-Patienten?«
    »Ja, wir haben eine eigene Station für Patienten, die an Alzheimer leiden. Würden Sie sie sich gern ansehen?«
    »Ja.«
    Sie folgte der Frau zu den Aufzügen.
    »Sehen Sie sich für einen Angehörigen um?«
    »Ja«, log Alice.
    Sie warteten. Wie die meisten Menschen, die sie hier beförderten, waren die Aufzüge alt und reagierten nur langsam.
    »Das ist eine hübsche Halskette«, sagte die Frau.
    »Danke.«
    Alice legte die Finger an ihr Brustbein und ließ sie über die Bleikristalle auf den Flügeln der Jugendstil-Schmetterlingskette ihrer Mutter gleiten. Ihre Mutter hatte sie ausschließlich zu ihrem eigenen

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