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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Hochzeitstag und anderen Hochzeiten getragen, und genau wie sie hatte auch Alice die Kette immer für besondere Anlässe aufbewahrt. Aber in ihrem Kalender waren in nächster Zeit keine offiziellen Feiern eingetragen, und sie liebte diese Kette, daher hatte sie sie im letzten Monat einmal nur zu Jeans und einem T-Shirt umgelegt. Sie sah perfekt aus.
    Außerdem gefiel es ihr, an Schmetterlinge erinnert zu werden. Sie entsann sich, wie sie als Sechs- oder Siebenjährige das Schicksal der Schmetterlinge in ihrem Garten beweint hatte, nachdem sie erfahren hatte, dass sie nur wenige Tage zu leben hatten. Ihre Mutter hatte sie getröstet und ihr gesagt, sie solle nicht traurig sein wegen der Schmetterlinge, denn dass ihr Leben kurz sei, hieße ja nicht, dass es tragisch war. Während sie zusahen, wie sie in der warmen Sonne zwischen den Gänseblümchen in ihrem Garten umherflatterten, hatte ihre Mutter zu ihr gesagt: Sieh mal, sie haben ein wunderschönes Leben . Daran erinnerte sich Alice gern.
    Sie stiegen im dritten Stock aus und gingen einen langen, mit Teppich ausgelegten Flur hinunter, durch eine unbeschriftete Flügeltür, und blieben dann stehen. Die Frau zeigte zurück auf die Tür, die sich hinter ihnen automatisch schloss.
    »Die Pflegestation für die Alzheimer-Patienten istabgeschlossen, das heißt, ohne den Code kommt man nicht über diese Tür hinaus.«
    Alice sah auf die Konsole an der Wand neben der Tür. Die einzelnen Zahlen standen auf dem Kopf und waren rückwärts von rechts nach links angeordnet.
    »Warum sind die Zahlen so angeordnet?«
    »Ach, das ist nur, damit die Bewohner den Code nicht mitbekommen und auswendig lernen.«
    Die Vorsichtsmaßnahme erschien ihr überflüssig. Wenn sie sich den Code einprägen könnten, dann müssten sie doch sicher nicht hier sein, oder?
    »Ich weiß nicht, ob Sie diese Erfahrung mit Ihrem Angehörigen bereits gemacht haben, aber Umherlaufen und nächtliche Unruhe sind Verhaltensweisen, die bei Alzheimer-Patienten sehr häufig auftreten. Unsere Station gestattet es den Bewohnern, sich jederzeit frei zu bewegen, aber in Sicherheit und ohne das Risiko, sich zu verlaufen. Wir stellen sie nachts nicht ruhig und sperren sie nicht in ihren Zimmern ein. Wir versuchen ihnen zu helfen, sich möglichst viel Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren. Das ist, wie wir wissen, ihnen selbst und ihren Familien sehr wichtig.«
    Eine kleine, weißhaarige Frau in einem rosa-grün geblümten Hausmantel sprach Alice an.
    »Sie sind nicht meine Tochter.«
    »Nein, tut mir leid, das bin ich nicht.«
    »Geben Sie mir mein Geld zurück!«
    »Sie hat Ihr Geld nicht genommen, Evelyn. Ihr Geld ist in Ihrem Zimmer. Sehen Sie in Ihrer obersten Kommodenschublade nach, ich glaube, dort haben Sie es hingetan.«
    Die Frau beäugte Alice mit Misstrauen und Abscheu, aber dann folgte sie dem Rat der Autorität und schlurfte in ihren schmutzig weißen Frotteepantoffeln zurück in ihr Zimmer.
    »Sie hat einen Zwanzigdollarschein, den sie immer und immer wieder versteckt, weil sie Angst hat, jemand könnte ihnihr stehlen. Und dann vergisst sie natürlich, wo sie ihn hingetan hat, und beschuldigt alle anderen, ihn gestohlen zu haben. Wir haben versucht, sie zu überreden, ihn auszugeben oder zur Bank zu bringen, aber sie weigert sich. Irgendwann wird sie vergessen, dass sie ihn besitzt, und dann wird sich die Sache erledigt haben.«
    Sicher vor Evelyns paranoiden Nachforschungen, gingen sie ungehindert weiter zu einem Gemeinschaftsraum am Ende des Korridors.
    In dem Raum saßen lauter ältere Leute an runden Tischen beim Mittagessen. Bei genauerem Hinsehen sah Alice, dass es hauptsächlich ältere Frauen waren.
    »Gibt es hier nur drei Männer?«
    »Tatsächlich sind nur zwei der zweiunddreißig Bewohner Männer. Und Harold kommt jeden Tag, um die Mahlzeiten mit seiner Frau einzunehmen.«
    Vielleicht war es ein Rückfall in die zu ihrer Kindheit herrschende Geschlechtertrennung, dass die beiden Männer mit der Alzheimer-Krankheit an einem eigenen Tisch beisammensaßen, etwas abseits von den Frauen. Gehhilfen versperrten die Wege zwischen den Tischen. Viele der Frauen saßen im Rollstuhl. Die meisten hatten schütteres weißes Haar und eingefallene Augen, vergrößert hinter dicken Brillengläsern, und sie alle aßen wie in Zeitlupe. Das Ganze hatte nichts Geselliges, es fand keine Unterhaltung statt, nicht einmal zwischen Harold und seiner Frau.
    Die einzigen Geräusche, die nicht mit dem Essen zu tun

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