Mein Leben Ohne Gestern
Lydia. »Nicht, dass sie Alzheimer hat, aber dass irgendetwas nicht stimmt.«
»Wieso denn?«, fragte Anna.
»Na ja, manchmal redet sie am Telefon zusammenhangslos, und sie wiederholt sich oft. Oder sie kann sich an etwas nicht erinnern, was ich fünf Minuten vorher gesagt habe. Und an Weihnachten wusste sie nicht mehr, wie man den Pudding macht.«
»Wie lange fällt dir das schon auf?«, fragte John.
»Mindestens ein Jahr inzwischen.«
Alice konnte es selbst nicht ganz so weit zurückverfolgen, aber sie glaubte ihr. Und sie spürte Johns Demütigung.
»Ich muss wissen, ob ich es habe. Ich will mich testen lassen. Wollt ihr beide euch testen lassen?«, fragte Anna.
»Ich glaube, mit der Angst des Nichtwissens könnte ich noch weniger leben als mit dem Wissen – selbst wenn ich es habe«, sagte Tom.
Lydia schloss die Augen. Alle warteten. Alice trug sich mit dem absurden Gedanken, dass sie entweder wieder angefangen hatte, ihren Text zu lernen, oder eingeschlafen war. Nach einem angespannten Schweigen schlug sie die Augen auf und gab ihre Entscheidung bekannt.
»Ich will es nicht wissen.«
Lydia musste immer aus der Reihe tanzen.
Es war seltsam still in der William James Hall. Das übliche Geplapper von Studenten auf den Gängen, das Fragen, Streiten, Scherzen, Jammern, Angeben und Flirten – es fehlte. Zu Beginn der Vorlesungszeit im Frühjahr verkrochen sich die meisten Studenten von dem weitläufigen Campus auf einmalwieder in ihren Unterkünften und Bibliotheksnischen, aber das würde erst nächste Woche der Fall sein. Viele Studenten der kognitiven Psychologie sollten einen Tag lang in Charlestown bei funktionellen MRT-Untersuchungen zusehen. Vielleicht war dieser Tag heute.
Was immer der Grund war, Alice freute sich über die Gelegenheit, ungestört eine Menge Arbeit erledigen zu können. Sie hatte sich dagegen entschieden, auf dem Weg zu ihrem Büro bei Jerri’s einen Tee mitzunehmen, aber jetzt wünschte sie, sie hätte es doch getan. Sie könnte das Tein gut brauchen. Sie las die Artikel in der Zeitschrift für Linguistik dieses Monats, sie entwarf die diesjährige Version der Abschlussprüfung für ihren Motivations- und Emotionskurs, und sie beantwortete alle E-Mails, die sie bislang vernachlässigt hatte. Alles ohne ein Klingeln des Telefons oder ein Klopfen an der Tür.
Sie war zu Hause, bevor ihr einfiel, dass sie ganz vergessen hatte, bei Jerri’s vorbeizuschauen. Sie wollte noch immer diesen Tee haben. Sie ging in die Küche und setzte Wasser auf. Auf der Uhr der Mikrowelle war es 4.22 Uhr morgens.
Sie sah aus dem Fenster. Sie sah Dunkelheit und ihr Spiegelbild in der Scheibe. Sie war im Nachthemd.
Hi, Mom,
die IUI hat nicht geklappt. Ich bin nicht schwanger. Ich bin nicht so bestürzt darüber, wie ich erwartet hatte (und Charlie scheint
fast erleichtert zu sein). Hoffen wir, dass mein anderer Test ebenfalls negativ ausfällt. Unser Termin dafür ist morgen. Tom und ich werden danach bei
euch vorbeikommen und dir und Dad die Ergebnisse sagen.
Alles Liebe,
Anna
Die Chancen, dass sie beide negativ auf die Mutation getestet waren, gingen von unwahrscheinlich auf entfernt zurück, als sie, eine Stunde nachdem Alice mit ihrer Ankunft gerechnet hatte, noch immer nicht zu Hause waren. Wenn sie beide negativ wären, dann hätte sich der Termin rasch erledigt – »Sie sind beide gesund, vielen Dank, auf Wiedersehen.« Vielleicht hatte sich Stephanie heute einfach verspätet. Vielleicht saßen Anna und Tom weitaus länger im Wartezimmer, als Alice einkalkuliert hatte.
Die Chancen sackten von entfernt auf verschwindend gering ab, als sie schließlich zur Haustür hereinkamen. Wenn sie beide negativ wären, dann würden sie einfach damit herausplatzen, oder man könnte es ihnen an ihren wild jubelnden Gesichtern ablesen. Stattdessen hielten sie, was sie wussten, mit aller Kraft unter der Oberfläche verborgen, während sie ins Wohnzimmer traten, dehnten die Zeit des LEBENS, BEVOR DAS PASSIERTE, so lange wie möglich aus, die Zeit, bevor sie die entsetzliche Mitteilung machen mussten, die sie beide offensichtlich bekommen hatten.
Sie saßen nebeneinander auf der Couch, Tom links und Anna rechts von ihm, genau wie damals, als sie Kinder waren, auf der Rückbank ihres Wagens. Tom war Linkshänder und saß gern am Fenster, und Anna machte es nichts aus, in der Mitte zu sitzen. Sie saßen jetzt näher beisammen als je zuvor, und als Tom nach ihrer Hand griff, kreischte sie nicht auf:
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