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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Leben. Na ja, manche schon, aber nicht aus Gründen, die mit dem IQ zusammenhingen.
    Obwohl ihr Gedächtnis immer schneller abbaute, leistete ihr Gehirn ihr in vielerlei Hinsicht noch immer gute Dienste. Zum Beispiel aß sie in genau diesem Augenblick ihr Eis, ohne etwas davon auf die Waffel oder ihre Hand zu kleckern, indemsie eine Schleck-und-Drehtechnik anwandte, die ihr als Kind in Fleisch und Blut übergegangen war und die vermutlich irgendwo in der Nähe des Wissens darüber gespeichert war, wie man Fahrrad fuhr und sich die Schuhe zuband. Jetzt trat sie von der Bordsteinkante und überquerte die Straße, und ihr motorischer Cortex und ihr Kleinhirn lösten die komplexen mathematischen Gleichungen, die erforderlich waren, um ihren Körper auf die andere Straßenseite zu bringen, ohne zu stürzen oder von einem herannahenden Wagen überfahren zu werden. Sie nahm den süßlichen Geruch von Narzissen und einen leichten Hauch von Curry wahr, der aus dem indischen Restaurant an der Ecke wehte. Mit jedem Schlecken schwelgte sie in dem köstlichen Geschmack von Schokolade und Erdnussbutter, demonstrierte die intakte Aktivierung der Bahnen ihres Gehirns, die für das Vergnügen zuständig waren, derselben Bahnen, die erforderlich waren, um Sex oder eine Flasche guten Wein zu genießen.
    Aber irgendwann würde sie vergessen, wie man eine Eiswaffel aß, wie sie sich die Schuhe zubinden und wie sie laufen sollte. Irgendwann würden die Neuronen, die für das Vergnügen zuständig waren, von einem Angriff aggregierenden Amyloids vernichtet werden, und sie würde nicht mehr imstande sein, die Dinge zu genießen, die sie liebte. Irgendwann würde es einfach keinen Sinn mehr haben.
    Sie wünschte, sie hätte stattdessen Krebs. Sie würde die Alzheimer-Krankheit sofort gegen Krebs eintauschen. Sie schämte sich für diesen Wunsch, und natürlich war es eine sinnlose Erwägung, aber sie gab sich der Fantasie dennoch hin. Mit dem Krebs hätte sie wenigstens etwas, gegen das sie ankämpfen könnte. Es gab eine Operation, es gab Bestrahlung und Chemotherapie. Es gab die Chance, ihn zu besiegen. Ihre Familie und ihre Gemeinschaft in Harvard würden sich geschlossen hinter sie stellen und ihren Kampf für edel halten. Und selbst wenn sie zum Schluss besiegt werden sollte, würde sie ihnenganz bewusst in die Augen sehen und von ihnen Abschied nehmen können, bevor es mit ihr zu Ende ging.
    Die Alzheimer-Krankheit hingegen war ein völlig anderes Monster. Es gab keine Waffen, um es zu schlachten. Aricept und Namenda zu nehmen, kam ihr vor, als würde sie mit ein paar undichten Wasserpistolen gegen ein loderndes Feuer ankämpfen. John befasste sich nach wie vor mit den Medikamenten in der klinischen Entwicklung, aber sie bezweifelte, dass irgendwelche davon schon einsatzbereit waren oder für sie viel ändern würden – sonst hätte er längst mit Dr. Davis telefoniert und darauf bestanden, einen Weg zu finden, sie ihr zugänglich zu machen. Im Augenblick stand jedem, der Alzheimer hatte, genau dasselbe Schicksal bevor, egal, ob er zweiundachtzig oder fünfzig war, den Bewohnern des Pflegeheims Mount Auburn Manor oder der ordentlichen Professorin für Psychologie an der Harvard-Universität. Das lodernde Feuer verzehrte sie alle. Niemand entkam ihm lebendig.
    Und während ein kahler Kopf und eine rosa Schleife als Ehrenabzeichen der Tapferkeit und Hoffnung galten, zeugten Alice’ stockender Wortschatz und ihre schwindenden Erinnerungen von geistiger Labilität und drohendem Wahnsinn. Wer Krebs hatte, konnte damit rechnen, von der Gemeinschaft unterstützt zu werden. Alice rechnete damit, geächtet zu werden. Selbst die Wohlmeinenden und Gebildeten hielten im Allgemeinen ängstlich Abstand zu den geistig Kranken. Sie wollte nicht zu jemandem werden, den die Leute mieden und fürchteten.
    Wenn sie sich damit abfand, dass sie tatsächlich die Alzheimer-Krankheit hatte, dass ihr lediglich zwei völlig unzulängliche Medikamente zu ihrer Behandlung zur Verfügung standen und dass sie nichts von alledem gegen irgendeine andere, heilbare Krankheit eintauschen konnte – was wollte sie dann noch? Angenommen, die künstliche Befruchtung klappte, dann wollte sie lange genug leben, um Annas Baby in ihrenArmen zu halten und zu wissen, dass es ihr Enkelkind war. Sie wollte Lydia in einem Stück spielen sehen, auf das sie stolz war. Sie wollte sehen, dass Tom sich verliebte. Sie wollte noch ein Forschungsjahr mit John haben. Sie wollte jedes Buch

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