Mein Leben Ohne Gestern
ersie an, mit einem solch angsterfüllten und tiefen Schmerz in seinen Augen, den sie darin noch nie gesehen hatte.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
APRIL 2004
So klug sie auch waren, sie konnten sich keinen endgültigen, langfristigen Plan zurechtlegen. Es gab zu viele Unbekannte, um einfach nach x aufzulösen, und die größte davon lautete: Wie schnell wird die Krankheit voranschreiten? Vor sechs Jahren hatten sie zusammen einen einjährigen Forschungsurlaub genommen, um Vom Molekül zum Verstand zu schreiben, daher konnten sie beide in einem Jahr wieder einen beantragen. Würde sie so lange noch durchhalten? Bis jetzt hatten sie nur entschieden, dass sie das Semester zum Abschluss bringen würde, so wenig wie möglich reisen würde und sie beide den ganzen Sommer zusammen am Cape verbringen würden. Weiter als bis zum August konnten sie nicht vorausdenken.
Und sie waren sich darin einig, es niemandem zu sagen, mit Ausnahme ihrer Kinder. Diese unvermeidliche Enthüllung, das Gespräch, über das sie sich am meisten den Kopf zermartert hatten, würde an diesem Morgen stattfinden, bei Bagels, Obstsalat, mexikanischer Frittata, Mimosas und Schokoladeneiern.
Es war Jahre her, seit sie sich zuletzt alle zu Ostern getroffen hatten. Anna verbrachte dieses Wochenende manchmal bei Charlies Familie in Pennsylvania, Lydia war in den letzten Jahren in LA geblieben und davor irgendwo in Europa gewesen, und noch ein paar Jahre zuvor war John auf einer Konferenz in Boulder. Es war nicht leicht gewesen, Lydia zu überreden, indiesem Jahr nach Hause zu kommen. Mitten in den Proben für ihr Stück, hatte sie erklärt, könne sie sich weder die Unterbrechung noch den Flug leisten, aber John hatte sie überzeugt, zwei Tage erübrigen zu können, und er hatte ihr Flugticket bezahlt.
Anna lehnte einen Mimosa und einen Bloody Mary ab und spülte die Karamelleier, die sie wie Popcorn verdrückt hatte, stattdessen mit eisgekühltem Wasser hinunter. Aber noch bevor einer von ihnen einen Verdacht hinsichtlich einer möglichen Schwangerschaft hegen konnte, holte sie schon zu einem detaillierten Vortrag über ihr bevorstehendes intrauterines Befruchtungsverfahren aus.
»Wir waren drüben im Brigham Hospital bei einem Fruchtbarkeitsspezialisten, und er konnte es sich auch nicht erklären. Meine Eier sind gesund, ich habe jeden Monat einen Eisprung, und mit Charlies Sperma ist alles in Ordnung.«
»Anna, bitte, ich glaube wirklich nicht, dass die anderen etwas über mein Sperma hören wollen«, sagte Charlie.
»Na ja, aber so ist es doch, und es ist einfach so frustrierend. Ich habe es sogar schon mit Akupunktur versucht, aber das hat auch nichts geholfen. Nur dass meine Migräne davon weggegangen ist. Das heißt, wenigstens wissen wir jetzt, dass ich grundsätzlich schwanger werden könnte. Am Dienstag fange ich mit den FSH-Injektionen an, und nächste Woche werde ich mir selbst etwas injizieren, das einen Eisprung auslöst, und dann werden sie mich mit Charlies Sperma befruchten.«
»Anna«, sagte Charlie.
»Na ja, aber so ist es doch nun einmal, und mit etwas Glück werde ich nächste Woche schwanger sein!«
Alice zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, verbarg ihre Angst hinter zusammengebissenen Zähnen. Die Symptome der Alzheimer-Krankheit zeigten sich für gewöhnlich erst nach dem fortpflanzungsfähigen Alter, nachdem das deformierte Gen bereits unwissentlich an die nächste Generation weitergegeben worden war. Was, wenn sie gewusst hätte, dasssie dieses Gen, dieses Schicksal, in jeder Zelle ihres Körpers trug? Hätte sie diese Kinder empfangen oder Maßnahmen getroffen, um sie zu verhüten? Hätte sie sich auf das Zufallsrisiko der Meiose eingelassen? Ihre bernsteinfarbenen Augen, Johns Adlernase und ihr Präsenilin-1. Natürlich, jetzt konnte sie sich ein Leben ohne ihre Kinder nicht mehr vorstellen. Aber bevor sie sie bekommen hatte, vor der Erfahrung dieser urwüchsigen und bis dahin unvorstellbaren Liebe, die mit ihrer Existenz einherging, hätte sie da vielleicht entschieden, dass es für alle Beteiligten besser war, es nicht zu tun? Würde sich Anna so entscheiden?
Tom schneite herein, mit Entschuldigungen für seine Verspätung und ohne seine neue Freundin. Das war Alice nur recht. Heute sollte die Familie besser unter sich sein. Und Alice konnte sich an ihren Namen ohnehin nicht erinnern. Er ging schnurstracks ins Esszimmer, vermutlich besorgt, er könnte das Essen verpasst haben, und kam dann zurück
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