Mein Leben Ohne Gestern
war eine tödliche, unheilbare Krankheit diagnostiziert worden. Und bei ihrer Tochter. Sie hatte das Reisen fast ganz aufgegeben, ihre einst dynamischen Vorlesungen waren unerträglich einschläfernd geworden, und in der wenigen Zeit, in der John mit ihr gemeinsam zu Hause war, schien er auf einemvöllig anderen Stern zu sein. Das hieß, ja, sie war ein bisschen traurig. Aber das schien ihr eine angemessene Reaktion auf ihre Situation zu sein und kein Grund, noch ein weiteres Medikament zu nehmen, mit noch mehr Nebenwirkungen, zusätzlich zu all den anderen, die sie ohnehin schon nahm. Und deswegen war sie auch gar nicht hier.
»Wir könnten es mit Restoril versuchen, jeweils eine vor dem Schlafengehen. Damit werden Sie rasch einschlafen und ungefähr sechs Stunden durchschlafen, ohne morgens benebelt aufzuwachen.«
»Ich hätte gern etwas Stärkeres.«
Eine lange Pause trat ein.
»Ich denke, ich möchte Sie bitten, einen Termin zu vereinbaren, zu dem Sie zusammen mit Ihrem Mann wiederkommen, und dann können wir darüber reden, ob ich Ihnen etwas Stärkeres verschreibe.«
»Mein Mann hat damit gar nichts zu tun. Ich bin nicht depressiv, und ich bin nicht verzweifelt. Mir ist bewusst, worum ich Sie bitte, Tamara.«
Dr. Moyer musterte ihr Gesicht genau. Und Alice musterte ihres. Sie waren beide älter als vierzig, jünger als alt, beide verheiratet, beide hochgebildete, berufstätige Frauen. Alice kannte die Grundsätze ihrer Ärztin nicht. Sie würde zu einem anderen Arzt gehen, wenn es sein musste. Ihre Demenz würde sich verschlimmern. Sie konnte es nicht riskieren, noch länger zu warten. Sie könnte es vergessen.
Sie hatte sich noch einen längeren Dialog zurechtgelegt, aber das war gar nicht nötig. Dr. Moyer zückte ihren Rezeptblock und begann zu
schreiben.
Sie saß wieder in diesem winzigen Testraum mit Sarah Irgendwas, der Neuropsychologin. Sie hatte sich Alice erst vor einer Minute noch einmal vorgestellt, aber Alice hatte ihren Nachnamen prompt wieder vergessen. Kein gutes Omen. Der Raum hingegen war genau so, wie sie ihn vom Dezember noch in Erinnerung hatte – beengt, steril und unpersönlich. Er enthielt einen Schreibtisch mit einem iMac-Computer, zwei Cafeteriastühle und einen Aktenschrank aus Metall. Sonst nichts. Keine Fenster, keine Pflanzen, keine Bilder oder Kalender an den Wänden oder auf dem Schreibtisch. Keine Ablenkungen, keine möglichen Hinweise, keine zufälligen Assoziationen.
Sarah Irgendwas begann mit dem Mini-Mental-Status-Test.
»Alice, welches Datum haben wir heute?«
»7. Juni 2004.«
»Und welche Jahreszeit haben wir?«
»Frühling, aber mir kommt es schon vor wie Sommer.«
»Ich weiß, heute ist es heiß draußen. Und wo sind wir im Augenblick?«
In einer Mini-Klapsmühle.
»In der Abteilung für Gedächtnisstörungen am Mass General Hospital in Boston, Massachusetts.«
»Können Sie die drei Dinge benennen, die hier abgebildet sind?«
»Ein Buch, ein Telefon, ein Pferd.«
»Und was ist das, was ich hier in der Hand halte?«
»Ein Bleistift.«
»Und das hier an meinem Handgelenk?«
»Eine Armbanduhr.«
»Können Sie ›Welt‹ für mich rückwärts buchstabieren?«
»T-L-E-W.«
»Und jetzt sprechen Sie mir nach: Ohne Wenn und Aber.«
»Ohne Wenn und Aber.«
»Können Sie die Hand heben, die Augen schließen und den Mund öffnen?«
Sie tat es.
»Alice, was waren das für drei Gegenstände, die Sie eben benannt haben?«
»Ein Pferd, ein Telefon und ein Buch.«
»Sehr gut, und können Sie jetzt dieses Bild abmalen?«
Wieder die sich schneidenden Fünfecke. Sie tat es.
»Und jetzt schreiben Sie hier einen Satz für mich auf.«
Ich kann nicht glauben, dass ich das hier eines Tages nicht mehr können werde.
»Sehr gut, und jetzt nennen Sie mir in einer Minute möglichst viele Wörter, die mit dem Buchstaben S beginnen.«
»Sarah, sollen, sicher, Sache. Sehen, selbst. Sex. Super. Sollen. Hoppla, das sagte ich schon. Sagte. Sorge.«
»Und jetzt nennen Sie mir möglichst viele Wörter, die mit dem Buchstaben V beginnen.«
»Vogel. Vater. Vase. Voll, vergessen, viel. Verdammt.« Sie lachte, wunderte sich über sich selbst. »Verzeihung.«
Verzeihung beginnt mit V.
»Schon gut, das bekomme ich oft zu hören.«
Alice fragte sich, wie viele Wörter sie noch vor einem Jahr hätte herunterrasseln können. Sie fragte sich, wie viele Wörter pro Minute als normal galten.
»Und jetzt nennen Sie mir so viele Gemüsesorten, wie Sie können.«
»Spargel,
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