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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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lesen, das sie lesen konnte, bevor sie es irgendwann nicht mehr können würde.
    Sie lachte leise auf, verblüfft von dem, was sie sich soeben eingestanden hatte. Nirgends auf dieser Liste stand irgendetwas von Linguistik, Lehre oder Harvard. Sie aß den letzten Bissen von ihrer Eiswaffel. Sie wollte noch mehr sonnige, fünfundzwanzig Grad warme Tage und Eiswaffeln.
    Und wenn die Bürde ihrer Krankheit ihr Vergnügen an diesem Eis irgendwann überwog, dann wollte sie sterben. Aber würde sie letztendlich noch genügend Geistesgegenwart besitzen, um den Augenblick zu erkennen, in dem sich diese beiden Kurven schnitten? Sie hatte die Sorge, ihr künftiges Ich könnte nicht mehr imstande sein, sich an einen solchen Plan zu erinnern und ihn in die Tat umzusetzen. John oder eines ihrer Kinder zu bitten, ihr dabei zu helfen, war keine Option. Das würde sie ihnen niemals zumuten.
    Sie brauchte einen Plan, der ihrem künftigen Ich einen Selbstmord aufzeigte, für den sie jetzt bereits Vorkehrungen traf. Sie musste sich einen einfachen Test ausdenken, einen, den sie sich selbst jeden Tag stellen konnte. Sie dachte an die Fragen, die Dr. Davis und die Neuropsychologin ihr gestellt hatten – die, die sie schon im letzten Dezember nicht mehr hatte beantworten können. Sie dachte darüber nach, was sie noch wollte. Intellektueller Scharfsinn war für nichts davon erforderlich. Sie war bereit, mit ein paar deutlichen Lücken in ihrem Kurzzeitgedächtnis weiterzuleben.
    Sie nahm ihren Blackberry aus ihrer himmelblauen Anna-Williams-Tasche, einem Geburtstagsgeschenk von Lydia. Sie trug sie jeden Tag bei sich, über die linke Schulter geschlungen, sodass sie an ihrer rechten Hüfte ruhte. Sie war zu einemunentbehrlichen Accessoire geworden, wie ihr Platin-Ehering und ihre Laufuhr. Zu ihrer Schmetterlingskette sah sie toll aus. Darin waren ihr Handy, ihr Blackberry und ihre Schlüssel. Sie legte sie nur zum Schlafen ab.
    Sie tippte:
     
    Alice, beantworte die folgenden Fragen:
     
    Welchen Monat haben wir?
    Wo wohnst du?
    Wo ist dein Büro?
    Wann ist Annas Geburtstag?
    Wie viele Kinder hast du?
     
    Wenn du Probleme damit hast, eine dieser Fragen zu beantworten, dann geh zu der Datei mit dem Namen »Schmetterling« auf deinem Computer, und folge unverzüglich den dortigen Anweisungen.
     
    Sie stellte den Vibrationsalarm für einen Dauertermin in ihrem Kalender ein, der sie jeden Morgen um acht Uhr an diesen Test erinnern würde, ohne Enddatum. Sie war sich darüber im Klaren, dass diese Konstruktion viele potenzielle Probleme barg, dass sie keineswegs idiotensicher war. Sie hoffte nur, dass sie Schmetterling würde öffnen können, bevor sie zu einer solchen Idiotin wurde.

    Sie rannte fast zu ihrem Kurs, besorgt, dass sie womöglich zu spät dran war, aber nichts hatte ohne sie begonnen, als sie ankam. Sie suchte sich einen Platz am Gang, in der vierten Reihe, links von der Mitte. Ein paar Studenten tröpfelten noch durch die hinteren Türen in den Raum, aber der Großteil desKurses war schon anwesend und bereit. Sie sah auf ihre Armbanduhr. 10.05 Uhr. Die Uhr an der Wand stimmte mit ihrer überein. Das war absolut ungewöhnlich. Sie beschäftigte sich. Sie ging den Lehrplan durch und sah sich ihre Notizen von der letzten Stunde an. Sie erstellte eine Erledigungsliste für den restlichen Tag:
     
    Labor
    Seminar
    Laufen
    für Abschlussprüfung lernen
     
    10.10 Uhr. Sie klopfte mit ihrem Stift zu der Melodie von My Sharona .
    Die Studenten regten sich auf ihren Plätzen, wurden allmählich ungeduldig. Sie sahen in Notizbücher und auf die Uhr an der Wand, sie blätterten in Lehrbüchern und klappten sie wieder zu, sie fuhren Laptops hoch und klickten und tippten. Sie tranken ihre Kaffees aus. Sie zerknüllten Verpackungen von Schokoriegeln und Chips und diversen anderen Snacks, die sie gegessen hatten. Sie kauten an Stiftkappen und Fingernägeln. Sie verdrehten die Hälse, um den hinteren Teil des Hörsaals abzusuchen, sie beugten sich vor, um sich mit Freunden in anderen Reihen zu beraten, sie zogen Augenbrauen hoch und zuckten Schultern. Sie flüsterten und kicherten.
    »Vielleicht haben wir heute einen Gastdozenten«, sagte ein Mädchen ein paar Reihen hinter Alice.
    Alice schlug noch einmal ihren Motivations- und Emotionslehrplan auf. Dienstag, 4. Mai: Stress, Hilflosigkeit und Kontrolle (Kapitel 12 & 14). Nichts von einem Gastdozenten. Die Energie im Raum verwandelte sich von erwartungsvoller in verlegene Dissonanz. Sie waren

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