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Mein Leben Ohne Gestern

Mein Leben Ohne Gestern

Titel: Mein Leben Ohne Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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ihr fesselte ihre Aufmerksamkeit einfach nicht.
    Sie schlenderte hoch zu Lydias Schlafzimmer. Von ihren drei Kindern kannte sie Lydia am wenigsten. Auf ihrer Kommode ergossen sich aus einem offenen Pappkarton Türkis- und Silberringe, ein Lederhalsband und eine bunte Perlenkette. Daneben lag ein Haufen Haarspangen und eine Schale, um Räucherstäbchen abzubrennen. Lydia war ein kleiner Hippie.
    Ihre Kleider lagen überall auf dem Boden verstreut, manche zusammengelegt, die meisten nicht. In ihren Kommodenschubladen konnte eigentlich kaum noch etwas sein. Sie ließ ihr Bett ungemacht. Lydia war eine kleine Schlampe.
    Lyrik- und Dramenbände füllten die Regale ihres Bücherschranks – Nacht, Mutter; Freunde zum Essen; Der Beweis; Empfindliches Gleichgewicht; Spoon River; Lamm Gottes; Engel in Amerika; Oleanna . Lydia war Schauspielerin.
    Sie nahm ein paar der Dramenbände in die Hand und blätterte sie durch. Sie hatten meist nur achtzig bis neunzig Seiten, auf denen jeweils nur wenig Text stand. Vielleicht würde es weitaus leichter und befriedigender sein, Theaterstücke zu lesen. Und ich könnte mit Lydia darüber reden . Sie behielt Der Beweis in der Hand.
    Lydias Tagebuch, ihr iPod, Sanford Meisner über die Schauspielkunst und ein gerahmtes Bild standen auf ihrem Nachttisch. Sie nahm das Tagebuch in die Hand. Sie zögerte, aber nur kurz. Zeit war ein Luxus, den sie nicht hatte. Sie setzte sich aufs Bett und las Seite um Seite von den Träumen und Geständnissen ihrer Tochter. Sie las von Blockaden und Durchbrüchen im Schauspielunterricht, Ängsten und Hoffnungenrund um Vorsprechen, Enttäuschungen und Freuden bei Castings. Sie las von der Leidenschaft und Beharrlichkeit einer jungen Frau.
    Sie las über Malcolm. Lydia hatte sich in ihn verliebt, als sie im Unterricht eine dramatische Szene zusammen spielten. Einmal dachte sie, sie könnte schwanger sein, war es dann aber doch nicht. Sie war erleichtert, weil sie, wie sie schrieb, noch nicht bereit war, zu heiraten oder Kinder zu haben. Sie wollte zuerst ihren eigenen Weg in der Welt finden.
    Alice betrachtete das gerahmte Foto von Lydia und einem Mann, vermutlich Malcolm. Ihre lächelnden Gesichter berührten sich. Sie waren glücklich, der Mann und die Frau auf dem Bild. Lydia war eine Frau.
    »Ali, bist du da?«, rief John.
    »Ich bin hier oben!«
    Sie legte das Tagebuch und das Foto zurück auf den Nachttisch und stahl sich nach unten.
    »Wo warst du denn?«, fragte Alice.
    »Ich bin nur kurz weggefahren.«
    Er hielt in jeder Hand eine weiße Plastiktüte.
    »Hast du mir ein neues Exemplar von Moby Dick gekauft?«
    »So ähnlich.«
    Er reichte Alice eine der Tüten. Sie war voller DVDs – Moby Dick mit Gregory Peck und Orson Welles, König Lear mit Laurence Olivier, Casablanca, Einer flog übers Kuckucksnest und Meine Lieder, meine Träume , ihr absoluter Lieblingsfilm.
    »Ich dachte, das würde dir vielleicht leichterfallen. Und es ist etwas, das wir zusammen machen können.«
    Sie lächelte.
    »Was ist in der anderen Tüte?«
    Sie war aufgeregt wie ein kleines Kind am Weihnachtsmorgen. Er holte eine Tüte Mikrowellen-Popcorn und einen Beutel Schoko-Toffees aus der anderen Tüte.
    »Können wir mit Meine Lieder, meine Träume anfangen?«
    »Na klar.«
    »Ich liebe dich, John.«
    Sie schlang die Arme um ihn.
    »Ich liebe dich auch, Ali.«
    Die Hände auf seinem Rücken, drückte sie ihr Gesicht an seine Brust und sog ihn tief in sich ein. Sie wollte noch mehr zu ihm sagen, wollte ihm sagen, wie viel er ihr bedeutete, aber sie konnte die Worte nicht finden. Er drückte sie fester an sich. Er wusste es. Lange Zeit standen sie so in der Küche und hielten einander, ohne etwas zu sagen.
    »Hier, mach du das Popcorn, ich lege inzwischen den Film ein, und wir treffen uns auf der Couch«, sagte John.
    »Okay.«
    Sie ging zur Mikrowelle, öffnete die Tür und lachte. Sie musste einfach lachen.
    »Ich habe Moby Dick gefunden!«

    Alice war schon seit ein paar Stunden allein auf den Beinen. In der Einsamkeit des frühen Morgens trank sie grünen Tee, las ein bisschen und machte draußen auf dem Rasen Yoga. In der Pose des abwärtsgerichteten Hundes füllte sie ihre Lungen mit der herrlichen, morgendlichen Meeresluft und aalte sich in dem seltsamen, fast schmerzhaften Vergnügen, ihre Kniesehnen und Gesäßmuskeln zu dehnen. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie ihren linken Trizeps unter der Anstrengung, ihren Körper in dieser Position zu halten. Hart, wie

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