Mein Leben Ohne Gestern
zwischen dir und deinem Dad zu folgen. Ich weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis so etwas wieder passieren wird, und die Abstände dazwischen werden immer kürzer werden. Und die Dinge, die passieren, werden schwerwiegender werden. Das heißt, selbst wenn ich mich völlig normal fühle, weiß ich, dass ich es nicht bin. Es ist nicht vorbei, es ist nur eine Verschnaufpause. Ich kann mir selbst nicht trauen.«
Sobald sie zu Ende gesprochen hatte, war sie besorgt, sie könnte zu viel preisgegeben haben. Sie wollte ihr keine Angst machen. Aber Lydia zuckte nicht zusammen und blieb interessiert, und Alice entspannte sich.
»Das heißt, du weißt es, wenn es passiert?«
»Meistens.«
»Wie war das zum Beispiel, als dir das Wort für ›Frischkäse‹ nicht eingefallen ist?«
»Ich weiß, wonach ich suche, aber mein Gehirn kommt einfach nicht darauf. Es ist, als ob du beschließt, dass du dieses Glas Wasser haben willst, aber deine Hand nimmt es sich einfach nicht. Du bittest freundlich darum, du drohst ihr, aber sie rührt sich einfach nicht vom Fleck. Irgendwann bringst du sie vielleicht dazu, sich in Bewegung zu setzen, aber dann nimmst du stattdessen vielleicht den Salzstreuer, oder du stößt das Glas um und verschüttest das Wasser auf dem ganzen Tisch. Oder bis du es schaffst, das Glas zu halten und an deine Lippen zu führen, ist das Kratzen in deiner Kehle verschwunden, und du musst gar nichts mehr trinken. Der Augenblick des Bedürfnisses ist vorbei.«
»Das klingt ja wie Folter, Mom.«
»Das ist es auch.«
»Es tut mir so leid, dass du das hast.«
»Danke.«
Lydia streckte einen Arm über die Teller und Gläser und die Jahre der Distanz aus und ergriff die Hand ihrer Mutter. Alice drückte ihre und lächelte. Endlich hatten sie etwas gefunden, worüber sie reden konnten.
Alice wachte auf der Couch auf. Sie machte in letzter Zeit oft ein Nickerchen, manchmal sogar zweimal täglich. Ihre Energie und Aufmerksamkeit profitierten zwar sehr von der zusätzlichen Ruhe, aber die Rückkehr in den Tag war jedes Mal quälend. Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Viertel nach vier. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, um wie viel Uhr sie eingenickt war. Sie erinnerte sich, zu Mittag gegessen zu haben. Ein Sandwich, irgendein Sandwich, mit John. Daswar vermutlich gegen zwölf gewesen. Die Ecke von irgendetwas Hartem presste sich in ihre Hüfte. Das Buch, das sie gelesen hatte. Sie musste beim Lesen eingeschlafen sein.
Zwanzig nach vier. Lydias Probe ging bis sieben. Sie setzte sich auf und horchte. Sie konnte die Seemöwen am Hardings Beach kreischen hören und stellte sie sich auf ihrer Schnitzeljagd vor, einer fieberhaften Suche, um selbst noch die letzten Krümel zu finden und zu verschlingen, die diese sorglosen, sonnengebräunten Menschen zurückgelassen hatten. Sie stand auf und machte sich auf ihre eigene Suche, die Suche nach John, weniger hektisch als die Möwen. Sie sah im Schlafzimmer und im Arbeitszimmer nach. Sie sah zur Auffahrt hinaus. Kein Wagen. Sie wollte ihn eben schon dafür verfluchen, dass er ihr keine Nachricht hinterlassen hatte, als sie doch eine fand, mit einem Magneten an die Kühlschranktür geheftet.
Ali – bin kurz weggefahren,
bin bald zurück, John
Sie setzte sich wieder auf die Couch und nahm sich ihr Buch, Vernunft und Gefühl von Jane Austen, schlug es aber nicht auf. Eigentlich wollte sie es jetzt gar nicht lesen. Sie hatte Moby Dick etwa zur Hälfte gelesen und es dann verlegt. Sie und John hatten das ganze Haus auf den Kopf gestellt, ohne Erfolg. Sie hatten sogar an jedem absolut unvorstellbaren Ort nachgesehen, an dem nur ein Demenzkranker ein Buch ablegen würde – im Kühlschrank und im Gefrierfach, in der Speisekammer, ihren Kommodenschubladen, im Wäscheschrank, im Kamin. Aber keiner von ihnen konnte es finden. Vermutlich hatte sie es am Strand liegen gelassen. Sie hoffte, sie hatte es am Strand liegen gelassen. Das war wenigstens etwas, was sie auch schon vor der Alzheimer-Krankheit getan hätte.
John hatte angeboten, ihr ein neues Exemplar zu besorgen. Vielleicht war er zur Buchhandlung gefahren. Sie hoffte es.Wenn sie noch viel länger wartete, würde sie vergessen, was sie bereits gelesen hatte, und noch einmal von vorn anfangen müssen. Diese ganze Arbeit. Allein schon der Gedanke daran erschöpfte sie von Neuem. In der Zwischenzeit hatte sie mit Jane Austen angefangen, die sie immer gemocht hatte. Aber gerade dieses eine Buch von
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