Mein Leben Ohne Gestern
was die anderen Schauspieler taten und fühlten. Alice verstand diesen Unterschied nicht wirklich, aber sie liebte Lydia dafür, dass sie ihr Handicap als »beneidenswerte Kunst« ansah.
John sah glücklich und aufgeregt aus, aber Alice entging nicht, dass er nur einen Teil des Glücks und der Aufregung zeigte, die er tatsächlich empfand, vermutlich um Annas vorsichtige Zurückhaltung – »es ist noch früh« – zu respektieren. Selbst ohne Annas Vorbehalte war er, wie die meisten Biologen, abergläubisch und nicht geneigt, diese beiden kleinen Küken offiziell zu zählen, bevor sie geschlüpft waren. Aber trotzdem konnte er es schon jetzt kaum noch erwarten. Er wollte Enkelkinder.
Dicht unter Charlies Glück und Aufregung sah Alice eine dicke Schicht Nervosität, die eine dicke Schicht Grauen verbarg. Alice glaubte, beides sei deutlich zu sehen, aber Anna schien nichts davon zu bemerken, und niemand sonst kommentierte es. Sah sie lediglich die typische Sorge eines Mannes, der zum ersten Mal Vater wurde? War er nervös angesichts der Verpflichtung, zwei Mäuler auf einmal stopfen und zwei Studiengebühren gleichzeitig bezahlen zu müssen? Das würde nur die erste Schicht erklären. Graute ihm vielleicht auch vor der Aussicht, zwei Kinder auf dem College und gleichzeitig eine demenzkranke Frau zu haben?
Lydia und Tom standen nebeneinander und redeten mit Anna. Ihre Kinder waren schön, ihre Kinder, die keine Kinder mehr waren. Lydia strahlte. Sie freute sich über die gute Neuigkeit und natürlich auch darüber, dass ihre ganze Familie hier war, um sie spielen zu sehen.
Toms Lächeln war aufrichtig, aber Alice bemerkte ein leichtes Unbehagen an ihm, seine Augen und Wangen waren leicht eingefallen, sein Körper knochiger. War es das Studium? Eine Freundin? Er sah, wie sie ihn musterte.
»Mom, wie geht es dir?«, fragte Tom.
»Ganz gut.«
»Wirklich?«
»Ja, wirklich. Es geht mir sehr gut.«
»Du wirkst so still.«
»Wir sind zu viele, die zu schnell und alle durcheinanderreden«, sagte Lydia.
Toms Lächeln schwand, und er sah aus, als würde er vielleicht gleich in Tränen ausbrechen. Ihr Blackberry in ihrer himmelblauen Handtasche vibrierte an ihrer Hüfte und signalisierte ihr, dass es Zeit für ihre abendliche Pillendosis war. Sie würde ein paar Minuten warten. Sie wollte sie nicht jetzt nehmen, nicht vor Tom.
»Lyd, um wie viel Uhr ist deine Vorstellung morgen?«, fragte Alice, ihren Blackberry in der Hand.
»Um acht.«
»Mom, du musst den Termin nicht eintragen. Wir sind alle hier, wir vergessen doch nicht, dich mitzunehmen«, sagte Tom.
»Wie heißt denn das Stück, das wir sehen werden?«, fragte Anna.
» Der Beweis «, sagte Lydia.
»Bist du nervös?«, fragte Tom.
»Ein bisschen schon, weil es der Premierenabend ist und ihr alle da sein werdet. Aber sobald ich auf der Bühne stehe, werde ich vergessen, dass es euch gibt.«
»Lydia, um wie viel Uhr ist dein Stück?«, fragte Alice.
»Mom, das hast du doch eben schon gefragt. Zerbrich dir nicht den Kopf deswegen«, sagte Tom.
»Um acht, Mom«, sagte Lydia. »Tom, du bist keine Hilfe.«
»Nein, du bist keine Hilfe. Warum soll sie sich den Kopf zerbrechen, um sich etwas zu merken, was sie sich nicht merken muss?«
»Sie wird sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wenn sie es in ihren Blackberry einträgt. Lass sie es einfach machen«, sagte Lydia.
»Na ja, sie sollte sich sowieso nicht auf diesen Blackberry verlassen. Sie sollte ihr Gedächtnis trainieren, sooft sie kann«, sagte Anna.
»Also was jetzt? Soll sie sich merken, wann meine Vorstellung losgeht, oder soll sie sich vollkommen auf uns verlassen?«, fragte Lydia.
»Du solltest sie ermuntern, sich zu konzentrieren und genau aufzupassen. Sie sollte versuchen, die Information selbst aufzurufen, und nicht faul werden«, sagte Anna.
»Sie ist nicht faul«, sagte Lydia.
»Aber du und dieser Blackberry helfen ihr, es zu werden. Hör mal, Mom, um wie viel Uhr ist Lydias Aufführung morgen?«, fragte Anna.
»Ich weiß es nicht, deswegen habe ich sie ja gefragt«, sagte Alice.
»Sie hat dir die Antwort zweimal gesagt, Mom. Kannst du versuchen, dich zu erinnern, was sie gesagt hat?«
»Anna, hör auf, sie abzufragen«, sagte Tom.
»Ich wollte es eben in meinen Blackberry eintragen, aber ihr habt mich unterbrochen.«
»Ich bitte dich nicht, es in deinem Blackberry nachzuschauen. Ich bitte dich, dich an die Uhrzeit zu erinnern, die sie dir genannt hat.«
»Na ja, ich habe nicht
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