Mein Leben Ohne Gestern
gemeißelt, schön. Ihr ganzer Körper sah kräftig und schön aus.
Sie war so gut in Form wie noch nie in ihrem Leben. Gutes Essen und die tägliche körperliche Bewegung zeigten sich in der Kraft ihrer angespannten Trizepsmuskeln und in ihren kräftigen Waden, in der Beweglichkeit ihrer Hüften und ihrem leichten Atmen während eines Viermeilenlaufs. Aber dannwar da natürlich noch ihr Verstand. Reaktionsschwach, ungehorsam, nachlassend.
Sie nahm Aricept, Namenda, die mysteriöse Amylex-Versuchspille, Lipitor, Vitamin C und E und Baby-Aspirin. Sie nahm zusätzliche Antioxidantien in Form von Blaubeeren, Rotwein und dunkler Schokolade. Sie trank grünen Tee. Sie versuchte es mit Ginkgo biloba. Sie meditierte und spielte Numero. Sie putzte sich die Zähne mit ihrer linken, nicht dominanten Hand. Sie schlief, wenn sie müde war. Und doch schien keine dieser Bemühungen zu deutlichen, messbaren Ergebnissen zu führen. Vielleicht würden sich ihre kognitiven Fähigkeiten deutlich verschlechtern, wenn sie die körperliche Bewegung, das Aricept oder die Blaubeeren wegließ. Vielleicht würde ihre Demenz, wenn ihr nichts mehr entgegengesetzt wurde, Amok laufen. Vielleicht. Aber vielleicht bewirkten all diese Dinge auch rein gar nichts. Sie konnte es nicht wissen, es sei denn, sie setzte einen Monat lang ihre Medikamente ab, verzichtete auf Wein und Schokolade und blieb auf ihrem Arsch sitzen. Aber das war ein Experiment, zu dem sie nicht bereit war.
Sie nahm die Kriegerpose ein. Sie atmete aus und sank tiefer in die Haltung ein, akzeptierte das Unbehagen und die zusätzliche Herausforderung für ihre Konzentration und Ausdauer, entschlossen, in der Pose zu verharren. Entschlossen, eine Kriegerin zu bleiben.
John tauchte aus der Küche auf, vom Schlaf zerzaust und wie ein Zombie, aber zum Laufen angezogen.
»Willst du erst noch einen Kaffee?«, fragte Alice.
»Nein, lass uns erst laufen, ich trinke ihn, wenn wir zurückkommen.«
Sie liefen jeden Morgen zwei Meilen die Main Street hinunter zum Stadtzentrum und auf demselben Weg zurück. Johns Körper war sichtlich schlanker und athletischer geworden, und er konnte diese Strecke inzwischen mit Leichtigkeitlaufen – er genoss aber nicht eine Sekunde davon. Er lief mit ihr, resigniert und ohne Murren, aber mit demselben Enthusiasmus und Eifer, mit dem er Rechnungen bezahlte oder die Wäsche erledigte. Und sie liebte ihn dafür.
Sie lief hinter ihm her, ließ ihn das Tempo vorgeben, sah und hörte ihm zu, als sei er ein wundervolles Musikinstrument – das pendelartige Schwingen seiner Ellenbogen, seine rhythmischen, leichten Atemzüge, der Widerhall seiner Laufschuhe auf dem sandigen Gehsteig. Dann spuckte er aus, und sie lachte. Er fragte nicht, warum.
Sie waren auf dem Rückweg, als sie zu ihm aufschloss und neben ihm herlief. In einem Anfall von Mitgefühl wollte sie ihm eben schon sagen, er müsse sie nicht länger begleiten, wenn er nicht wolle, sie könne diese Strecke gut allein bewältigen. Aber dann folgte sie ihm, als er an einer Weggabelung nach rechts in die Mill Road auf ihr Haus zulief – an einer Stelle, wo sie die linke Abzweigung genommen hätte. Die Alzheimer-Krankheit ließ sich nicht gern ignorieren.
Zu Hause angekommen, bedankte sie sich bei ihm, küsste ihn auf seine schweißnasse Wange und ging dann sofort und ungeduscht zu Lydia, die noch im Pyjama war und auf der Veranda Kaffee trank. Jeden Morgen sprachen sie und Lydia über das Stück, das Alice gerade las, bei Müsli mit Blaubeeren oder einem Sesambagel mit FRISCHKÄSE und Kaffee und Tee. Alice’ Instinkt war richtig gewesen. Sie las Theaterstücke weitaus lieber als Romane oder Biografien, und mit Lydia über das zu reden, was sie soeben gelesen hatte, ob es nun Szene eins, Akt eins oder das ganze Stück war, erwies sich als unterhaltsame und wirkungsvolle Methode, um ihr Gedächtnis zu trainieren. Indem sie Szenen, Figuren und den Plot mit Lydia analysierte, erkannte Alice die Tiefe des Intellekts ihrer Tochter, ihr ausgeprägtes Verständnis menschlicher Bedürfnisse und Emotionen und Kämpfe. Sie sah Lydia. Und sie liebte sie.
Heute diskutierten sie über eine Szene aus Engel inAmerika . Sie tauschten angeregt Fragen und Antworten aus, und ihr Gespräch war wechselseitig, gleichberechtigt, unterhaltsam. Und da Alice nicht mit John wetteifern musste, um ihre Gedanken zu Ende zu führen, konnte sie sich Zeit lassen und blieb nicht außen vor.
»Wie war es, diese Szene mit Malcolm zu
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