Mein Leben Ohne Gestern
Jugend. Das mit Dad sind seine Erinnerungen an die Zeit, als ihr euch kennengelernt habt und zusammen ausgegangen seid, und an eure Hochzeit und Urlaube und noch vieles mehr. Da sind ein paar wirklich tolle Geschichten dabei, die niemand von uns Kindern kannte. Das dritte habe ich noch gar nicht gedreht. Es ist ein Interview mit dir, mit deinen Geschichten, wenn du es machen willst.«
»Das will ich auf jeden Fall machen. Ich bin begeistert. Vielen Dank, ich kann es kaum erwarten, sie mir anzusehen.«
Die Kellnerin brachte ihnen Kaffee, Tee und einen Schokoladenkuchen mit einer Kerze darauf. Sie sangen alle »Happy Birthday«. Alice blies die Kerze aus und wünschte sich etwas.
NOVEMBER 2004
Die Filme, die John im Laufe des Sommers gekauft hatte, fielen inzwischen in dieselbe unglückliche Kategorie wie die aufgegebenen Bücher, die sie ersetzen sollten. Sie konnte der Handlung nicht mehr folgen und sich an die Bedeutung der Charaktere nicht mehr erinnern, wenn sie nicht in jeder Szene auftraten. Sie konnte kurze Momente genießen, hatte aber nur noch einen ungefähren Eindruck von dem Film, wenn der Abspann lief. Dieser Film war witzig . Wenn John oder Anna ihn mit ihr zusammen ansahen, lachten sie oft schallend oder zuckten ängstlich zusammen oder wanden sich vor Abscheu, reagierten auf eine offensichtliche, emotionale Art auf das, was geschah, aber sie verstand nicht, warum. Sie spielte mit, verstellte sich, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie verloren sie war. Filme anzusehen, führte ihr krass vor Augen, wie verloren sie tatsächlich war.
Die DVDs , die Lydia gedreht hatte, kamen genau zur rechten Zeit. Jede Geschichte, die John und die Kinder erzählten, war nur ein paar Minuten lang, sodass sie jede einzelne in sich aufnehmen konnte, und sie musste die Information aus einer bestimmten Geschichte nicht aktiv im Kopf behalten, um die anderen zu verstehen oder zu genießen. Sie sah sie sich immer wieder an. Sie konnte sich nicht an alles erinnern, wovon sie redeten, aber das erschien ihr völlig normal, denn ihre Kinder und John konnten sich auch nicht an alle Einzelheitenerinnern. Und einmal, als Lydia sie alle bat, genau dasselbe Ereignis nachzuerzählen, hatten sie es alle etwas anders in Erinnerung, ließen manche Details weg, stellten andere übertrieben dar, betonten ihre eigene, individuelle Perspektive. Selbst Biografien, die nicht von Krankheit geprägt waren, konnten lückenhaft und verzerrt sein.
Das Alice-Howland -Video anzusehen, ertrug sie nur ein einziges Mal. Früher war sie so wortgewandt, so selbstsicher gewesen, wenn sie vor einem Publikum sprach. Jetzt verwendete sie allzu häufig das Wort »Dingsda« und wiederholte sich peinlich oft. Aber sie war dankbar, dass sie sie hatte, ihre Erinnerungen, Betrachtungen und Ratschläge, aufgezeichnet und festgehalten, sicher vor dem molekularen Angriff der Alzheimer-Krankheit. Ihre Enkelkinder würden es sich eines Tages ansehen und sagen: »Das ist Oma, als sie noch reden und sich an Dinge erinnern konnte.«
Eben hatte sie sich Alice und John zu Ende angesehen. Sie blieb mit einer Decke über den Beinen auf der Couch sitzen, nachdem der Fernsehbildschirm schwarz geworden war, und lauschte. Sie mochte die Stille. Sie atmete tief durch und dachte ein paar Minuten an nichts als das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Dann bekam das Ticken auf einmal eine Bedeutung, und sie schlug die Augen auf.
Sie sah auf die Uhrzeiger. Zehn Minuten vor zehn. Oh mein Gott, was tue ich denn immer noch hier? Sie warf die Decke auf den Boden, zwängte sich in ihre Schuhe, rannte ins Arbeitszimmer und klappte ihre Laptoptasche zu. Wo ist meine blaue Handtasche? Nicht auf dem Stuhl, nicht auf dem Schreibtisch, nicht in den Schreibtischschubladen, nicht in der Laptoptasche. Sie rannte hoch in ihr Schlafzimmer. Nicht auf ihrem Bett, nicht auf dem Nachttisch, nicht auf der Kommode, nicht im Wandschrank, nicht auf dem Schreibtisch. Sie stand in der Diele und zermarterte sich ihr verwirrtes Gehirn darüber, wo sie sein könnte, als sie sie am Türknauf der Badezimmertür hängen sah.
Sie zog den Reißverschluss auf. Handy, Blackberry, keine Schlüssel. Sie legte sie immer dort hinein. Na ja, das stimmte nicht ganz. Sie hatte sich vorgenommen, sie immer dort hineinzulegen. Aber manchmal legte sie sie in ihre Schreibtischschublade, den Besteckkasten, ihr Unterwäschefach, ihre Schmuckschatulle, den Briefkasten oder irgendwelche Kleidertaschen. Manchmal ließ sie sie
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