Mein Leben Ohne Gestern
Gips, als er sich beim Skifahren das Bein gebrochen hatte, mit Zahnspange, in seiner Little-League-Uniform und in ihren Armen, als er ein Kleinkind war.
Sie konnte auch Lydias Geschichte sehen, aber irgendwie war diese Frau, die ihr gegenübersaß, nicht untrennbar mit ihren Erinnerungen an ihr jüngstes Kind verbunden. Das war ihr unangenehm, und es führte ihr schmerzlich vor Augen, dass sie abbaute, dass ihre Vergangenheit im Begriff war, sich von ihrer Gegenwart zu lösen. Und wie seltsam, dass es kein Problem für sie war, den Mann neben Anna als Annas Ehemann Charlie zu identifizieren, einen Mann, der erst vor ein paar Jahren in ihr Leben getreten war. Sie stellte sich ihre Alzheimer-Krankheit als einen Dämon in ihrem Kopf vor, der eine gnadenlose und unlogische Schneise der Zerstörung riss, der die Verdrahtung von »Lydia jetzt« zu »Lydia damals« kappte, aber alle »Charlie«-Verbindungen unbeschädigt ließ.
Das Restaurant war laut und überfüllt. Stimmen von anderen Tischen wetteiferten um Alice’ Aufmerksamkeit, unddie Musik im Hintergrund drängte sich immer wieder in den Vordergrund. Annas und Lydias Stimmen klangen für sie genau gleich. Alle verwendeten zu viele Pronomen. Sie versuchte verzweifelt herauszufinden, wer an ihrem Tisch redete, und dem zu folgen, was gesagt wurde.
»Schatz, alles okay mit dir?«, fragte Charlie.
»Diese Gerüche«, sagte Anna.
»Willst du kurz rausgehen?«, fragte Charlie.
»Ich komme mit«, sagte Alice.
Alice versteifte den Rücken, sobald sie die behagliche Wärme des Restaurants verließen. Sie hatten beide vergessen, ihre Mäntel mitzunehmen. Anna nahm Alice’ Hand und führte sie fort von einem Kreis junger Raucher, die in der Nähe der Tür herumstanden.
»Ah, Frischluft«, sagte Anna und atmete genießerisch tief durch die Nase ein und aus.
»Und Stille«, sagte Alice.
»Wie fühlst du dich, Mom?«
»Okay«, sagte Alice.
Anna rieb Alice’ Handrücken, die Hand, die sie noch immer hielt.
»Es ging mir schon besser«, gab sie zu.
»Mir auch«, sagte Anna. »War dir auch so schlecht, als du mit mir schwanger warst?«
»Oh ja.«
»Wie bist du damit klargekommen?«
»Du musst einfach durchhalten. Es wird bald aufhören.«
»Und im nächsten Augenblick sind die Babys schon da.«
»Ich kann es kaum noch erwarten.«
»Ich auch nicht.«
Aber in ihrer Stimme schwang nicht dieselbe Begeisterung mit wie in der von Alice. Auf einmal füllten sich ihre Augen mit Tränen.
»Mom, mir ist ständig schlecht, und ich bin erschöpft, undjedes Mal, wenn ich etwas vergesse, denke ich, ich bin auch schon symptomatisch.«
»Oh, Schatz, das bist du nicht, du bist nur müde.«
»Ich weiß, ich weiß, es ist nur, wenn ich an dich denke, dass du nicht mehr unterrichtest, und was du alles verlierst …«
»Nicht doch. Das sollte eine aufregende Zeit für dich sein. Ich bitte dich, denk einfach an das, was wir gewinnen.«
Alice drückte die Hand, die sie hielt, und legte ihre andere sanft auf Annas Bauch. Anna lächelte, aber die Tränen strömten immer noch aus ihren schmerzerfüllten Augen.
»Ich weiß einfach nicht, wie ich das alles schaffen soll. Mein Job und zwei Babys und …«
»Und Charlie. Vergiss dich und Charlie nicht. Halt an dem fest, was du mit ihm hast. Halt alles im Gleichgewicht – dich und Charlie, deine Karriere, deine Kinder, alles, was du liebst. Betrachte nichts von dem, was du im Leben liebst, als selbstverständlich, dann schaffst du das schon. Charlie wird dir helfen.«
»Oh ja, das soll er gefälligst tun«, sagte Anna drohend.
Alice lachte. Anna wischte sich ein paarmal mit dem Handrücken über die Augen und atmete nach der Lamaze-Methode einmal tief durch den Mund aus.
»Danke, Mom. Jetzt geht es mir schon besser.«
»Gut.«
Wieder im Restaurant, setzten sie sich und aßen ihr Abendessen. Die junge Frau, die Alice gegenübersaß, ihr jüngstes Kind, Lydia, klopfte mit ihrem Messer gegen ihr leeres Weinglas.
»Mom, wir würden dir jetzt gern dein großes Geschenk geben.«
Lydia überreichte ihr ein kleines, rechteckiges Päckchen, das in Goldpapier gewickelt war. Es musste etwas sehr Bedeutungsvolles sein. Alice löste
das Papier. Darin lagen drei DVDs – Die Howland-Kinder, Alice und John und Alice Howland .
»Das ist ein Video-Andenken für dich. Die Howland - Kinder ist eine Sammlung von Interviews mit Anna, Tom und mir. Ich habe sie in diesem Sommer gedreht. Es sind unsere Erinnerungen an dich und unsere Kindheit und
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