Mein Leben Ohne Gestern
einfach im Schlüsselloch stecken. Sie hasste es, wie viele Minuten sie täglich damit zubrachte, nach ihren eigenen verlegten Dingen zu suchen.
Sie stürzte wieder hinunter ins Wohnzimmer. Keine Schlüssel, aber auf dem Ohrensessel fand sie ihren Mantel. Sie schlüpfte hinein und steckte die Hände in die Manteltaschen. Schlüssel!
Sie rannte in Richtung Flur, aber noch bevor sie die Tür erreicht hatte, hielt sie unvermittelt inne. Das war aber merkwürdig. Da war ein großes Loch im Boden, genau vor der Tür. Es erstreckte sich über die ganze Breite des Flurs und war etwa drei Meter lang, mit nichts als dem dunklen Keller darunter. Es war unpassierbar. Die Dielenbretter im Flur waren alle verzogen und knarrten, und sie und John hatten kürzlich darüber geredet, sie zu ersetzen. Hatte John einen Handwerker beauftragt? War heute jemand hier gewesen? Sie konnte sich nicht erinnern. Was immer der Grund war, sie konnte die vordere Haustür nicht benutzen, bis das Loch gerichtet und wieder geschlossen war.
Auf dem Weg zur Hintertür klingelte das Telefon.
»Hi, Mom. Ich komme so gegen sieben vorbei, und ich bringe etwas zum Abendessen mit.«
»Okay«, sagte Alice fast ein bisschen schrill.
»Ich bin’s, Anna.«
»Ich weiß.«
»Dad ist bis morgen in New York, erinnerst du dich? Ich bleibe über Nacht. Aber ich kann nicht vor halb sieben von der Arbeit weg, warte also mit dem Essen auf mich. Schreib es dir am besten auf die weiße Tafel am Kühlschrank.«
Sie sah auf die Tafel. GEH NICHT OHNE MICH LAUFEN. Provoziert wollte sie ins Telefon schreien, dass sie keinen Babysitter brauchte und in ihrem eigenen Haus sehr gut allein zurechtkam. Stattdessen holte sie einmal tief Luft.
»Also dann, bis später.«
Sie legte auf und beglückwünschte sich dazu, dass sie ihre impulsivsten Emotionen noch immer im Griff hatte. Irgendwann in absehbarer Zukunft würde sie sie nicht mehr im Griff haben. Sie würde sich freuen, Anna zu sehen, und es würde ihr guttun, nicht allein zu sein.
Sie war im Mantel, ihre Laptoptasche und die himmelblaue Handtasche über die Schulter geworfen. Sie sah aus dem Küchenfenster. Windig, feucht, grau. War es vielleicht morgens? Ihr war nicht danach, aus dem Haus zu gehen, ihr war nicht danach, in ihrem Büro zu sitzen. Sie war gelangweilt, fühlte sich ignoriert und entfremdet in ihrem Büro. Sie fühlte sich lächerlich dort. Sie gehörte nicht mehr dorthin.
Sie legte ihre Taschen und den Mantel ab und machte sich auf den Weg ins Arbeitszimmer, aber ein plötzliches Poltern und Scheppern lenkte ihre Schritte zurück in die Diele. Die Post war eben durch den Briefschlitz geworfen worden und lag nun oben auf dem Loch in der Schwebe. Sie musste auf einem darunterliegenden Balken oder Dielenbrett gelandet sein, das sie nicht sehen konnte. Schwebende Post. Mein Gehirn ist am Ende! Sie zog sich ins Arbeitszimmer zurück und versuchte, das der Schwerkraft trotzende Loch in der Diele zu vergessen. Es fiel ihr erstaunlich schwer.
Sie saß in ihrem Arbeitszimmer, hielt ihre Knie umschlungen und starrte durch das Fenster auf den dunkler werdenden Tag, wartete auf Anna, die mit dem Abendessen vorbeikommen würde, wartete auf John, der aus New Yorkzurückkommen würde, damit sie laufen gehen konnte. Sie saß da und wartete. Sie saß da und wartete darauf, dass es schlimmer wurde. Sie war es leid, immer nur dazusitzen und zu warten.
Sie war die Einzige, die sie in Harvard mit der früh einsetzenden Alzheimer-Krankheit kannte. Sie war die Einzige, die sie überhaupt mit früh einsetzender Alzheimer-Krankheit kannte. Aber sie war sicher nicht die Einzige. Sie musste ihre neuen Kollegen finden. Sie musste sich in dieser neuen Welt einleben, in der sie sich auf einmal wiederfand, dieser Welt der Demenz.
Sie gab die Worte FRÜH EINSETZENDE ALZHEIMER-KRANKHEIT bei Google ein. Jede Menge Fakten und Statistiken wurden auf ihrem Bildschirm aufgerufen.
In den Vereinigten Staaten gibt es schätzungsweise fünfhunderttausend Menschen mit der früh einsetzenden Alzheimer-Krankheit. Als früh einsetzend gilt bei der Alzheimer-Krankheit ein Alter von unter fünfundsechzig.
Symptome können sich bereits in den Dreißigern und Vierzigern entwickeln.
Sie fand Webseiten mit Listen von Symptomen, genetischen Risikofaktoren, Ursachen und Behandlungen, Artikel über wissenschaftliche Untersuchungen und die Entdeckung von Medikamenten. Sie hatte das alles schon gesehen.
Sie erweiterte ihre Google-Suche um
Weitere Kostenlose Bücher