Mein Leben Ohne Gestern
Wenn etwas so Einfaches wie regelmäßige körperliche Bewegung das Fortschreiten dieser Krankheit tatsächlich verlangsamen konnte, dann sollte sie so oft wie möglich laufen. Jedes Mal, wenn er ihr sagte, »nicht heute«, könnte sie weitere Neuronen verlieren, die sie hätten retten können. Sie könnte unnötig schneller sterben. John brachte sie um.
Sie griff wieder zum Telefon.
»Ja?«, sagte John in einem gedämpften, verärgerten Ton.
»Ich will, dass du mir versprichst, dass wir heute laufen werden.«
»Entschuldigen Sie mich einen Augenblick«, sagte er zu jemand anders. »Bitte, Alice, ich rufe dich zurück, sobald ich aus dieser Besprechung komme.«
»Ich muss heute laufen gehen.«
»Ich weiß noch nicht, wann ich heute mit allem fertig sein werde.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, ich denke, wir sollten dir ein Laufband besorgen.«
»Ach, du kannst mich mal«, sagte sie und legte auf.
Sie nahm an, dass das nicht sehr verständnisvoll war. In letzter Zeit neigte sie oft zu Wutausbrüchen. Ob das ein Symptom ihrer fortschreitenden Krankheit war oder eine berechtigte Reaktion, konnte sie unmöglich sagen. Sie wollte kein Laufband. Sie wollte ihn. Vielleicht sollte sie nicht so stur sein. Vielleicht brachte sie sich auch selbst um.
Sie konnte immer noch ohne ihn irgendwohin gehen. Natürlich nur irgendwohin, wo es »sicher« war. Sie konnte zu ihrem Büro gehen. Aber sie wollte nicht zu ihrem Büro gehen. Sie war gelangweilt, fühlte sich ignoriert und entfremdet in ihrem Büro. Sie fühlte sich lächerlich dort. Sie gehörte nicht mehr dorthin. In all der weitläufigen Erhabenheit von Harvard war kein Platz für eine Professorin für kognitive Psychologie mit einer kaputten kognitiven Psyche.
Sie saß in ihrem Wohnzimmersessel und überlegte, was sie tun könnte. Ihr fiel nichts ausreichend Bedeutungsvolles ein. Sie versuchte, sich den
morgigen Tag vorzustellen, die nächste Woche, den kommenden Winter. Ihr fiel nichts ausreichend Bedeutungsvolles ein. Sie war gelangweilt, fühlte sich
ignoriert und entfremdet in ihrem Wohnzimmersessel. Die Spätnachmittagssonne warf seltsam wellenförmige Tim-Burton-Schattenüber den
Boden und die Wände hoch. Sie beobachtete, wie sich die Schatten auflösten und das Zimmer dunkler wurde. Sie schloss die Augen und schlief ein.
Alice stand in ihrem Schlafzimmer, nackt bis auf ein Paar Söckchen und ihr Safe-Return-Armband, und kämpfte knurrend mit einem Kleidungsstück, das ihr um den Kopf hing. Ihr Kampf gegen das Stück Stoff, das ihren Kopf umhüllte, sah aus wie ein Martha-Graham-Tanz, ein physischer und poetischer Ausdruck von Angst. Sie stieß einen langen Schrei aus.
»Was ist los?« John stürzte ins Zimmer.
Sie sah ihn an, mit einem panischen Auge, das durch ein rundes Loch in dem verhedderten Kleidungsstück starrte.
»Ich schaffe das nicht! Ich weiß nicht, wie ich mir diesen verdammten Sport-BH anziehen soll. Ich weiß nicht mehr, wie man sich einen BH anzieht, John! Ich kann meinen eigenen BH nicht mehr anziehen!«
Er ging zu ihr und musterte ihren Kopf.
»Das ist kein BH, Ali, das ist ein Slip.«
Sie brach in Gelächter aus.
»Das ist nicht witzig«, sagte John.
Sie lachte noch lauter.
»Hör auf, das ist nicht witzig. Hör zu, wenn du laufen gehen willst, dann musst du dich beeilen und dich anziehen. Ich habe nicht viel Zeit.«
Er verließ das Zimmer, außerstande, sie anzusehen, wie sie dastand, nackt, mit ihrem Slip auf dem Kopf, und über ihren eigenen absurden Wahnsinn
lachte.
Alice wusste, dass die junge Frau, die ihr gegenübersaß, ihre Tochter war, aber dieses Wissen war mit erschreckend wenig Selbstvertrauen verbunden. Sie wusste, dass sie eine Tochter namens Lydia hatte, aber als sie die junge Frau ansah, die ihr gegenübersaß, war die Gewissheit, dass sie ihre Tochter Lydia vor sich hatte, eher ein akademisches Wissen als ein implizites Verständnis, eine Tatsache, die sie bejaht hatte, eine Information, die sie erhalten und als wahr akzeptiert hatte.
Sie sah Tom und Anna an, die ebenfalls am Tisch saßen, und konnte sie automatisch mit Erinnerungen verbinden, die sie an ihr ältestes Kind und ihren Sohn hatte. Sie konnte Anna in ihrem Hochzeitskleid vor sich sehen, in ihren Abschlussroben von der juristischen Fakultät, dem College und der Highschool und in dem Schneewittchen-Nachthemd, das sie unbedingt jeden Tag tragen wollte, als sie drei war. Sie konnte sich an Tom in Doktorhut und Talar erinnern, in
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