Mein Leben Ohne Gestern
Alice riss sie weg und schrie.
»Lass mich allein! Verschwinde aus meinem Haus! Ich hasse dich! Ich will dich nicht hier haben!«
Ihre Worte trafen Anna härter ins Gesicht, als hätte sie sie geschlagen. Unter den Tränen, die ihr übers Gesicht liefen, verhärtete sich Annas Miene zu ruhiger Entschlossenheit.
»Ich habe uns etwas zum Abendessen mitgebracht, ich bin am Verhungern, und ich bleibe. Ich gehe zum Essen in die Küche, und dann gehe ich ins Bett.«
Alice stand allein in der Diele. Wut und Kampfgeist jagten wie wild durch ihre Adern. Sie öffnete die Tür und begann, an dem Teppich zu zerren. Sie
riss mit aller Kraft an ihm und verlor das Gleichgewicht. Sie rappelte sich wieder hoch und zerrte und zog an ihm, bis er ganz im Freien war. Dann trat
sie dagegen und schrie ihn wild an, bis er die Stufen vor dem Haus hinunterrutschte und reglos auf dem Gehsteig liegen blieb.
Alice, beantworte die folgenden Fragen:
Welchen Monat haben wir?
Wo wohnst du?
Wo ist dein Büro?
Wann ist Annas Geburtstag?
Wie viele Kinder hast du?
Wenn du Probleme damit hast, eine dieser Fragen zu beantworten, dann geh zu der Datei mit dem Namen »Schmetterling« auf deinem Computer und folge unverzüglich den dortigen Anweisungen.
November
Cambridge
Harvard
September
drei
DEZEMBER 2004
Dans Doktorarbeit umfasste einhundertundzweiundvierzig Seiten, ohne die Quellenangaben. Alice hatte schon seit einer Ewigkeit nichts so Langes mehr gelesen. Sie saß auf der Couch, Dans Worte in ihrem Schoß, einen roten Kugelschreiber hinter dem rechten Ohr und einen rosa Textmarker in der rechten Hand. Den roten Kugelschreiber benutzte sie für ihre Korrekturen und den rosa Textmarker, um zurückverfolgen zu können, was sie schon gelesen hatte. Sie strich sich alles an, was ihr wichtig erschien, sodass sie, wenn sie noch einmal zurückblättern musste, ihre nochmalige Lektüre auf die eingefärbten Wörter beschränken konnte.
Auf Seite sechsundzwanzig blieb sie hoffnungslos hängen, sie war ganz in Rosa getaucht. Ihr Gehirn fühlte sich völlig überstrapaziert und flehte sie um eine Pause an. Sie stellte sich vor, wie sich die rosa Wörter auf der Seite in ihrem Kopf in klebrige rosa Zuckerwatte verwandelten. Je mehr sie las, desto mehr musste sie sich anstreichen, um zu verstehen und sich zu erinnern, was sie las. Je mehr sie sich anstrich, desto mehr füllte sich ihr Kopf mit wolleartigem rosa Zucker und verklebte und verstopfte die Bahnen in ihrem Gehirn, die sie brauchte, um zu verstehen und sich zu erinnern, was sie las. Als sie auf Seite sechsundzwanzig war, verstand sie gar nichts mehr.
Piep, piep.
Sie warf Dans Doktorarbeit auf den Couchtisch und ging zu dem Computer im Arbeitszimmer. Sie fand eine neue E-Mail in ihrem Posteingangsfach, von Denise Daddario.
Liebe Alice,
ich habe Ihre Idee einer Selbsthilfegruppe für an früh einsetzender Demenz Erkrankte mit den anderen früh Erkrankten hier in unserer Abteilung und mit den Kollegen im Brigham and Women’s Hospital besprochen. So habe ich von drei Betroffenen aus der Gegend erfahren, die sehr interessiert an einem Treffen sind. Sie haben mir die Erlaubnis gegeben, Ihnen ihre Namen und Kontaktdaten zu geben (siehe Attachment).
Vielleicht sollten Sie außerdem die Alzheimer-Gesellschaft in Massachusetts kontaktieren. Dort weiß man vielleicht noch von anderen Betroffenen, die gern mit Ihnen in Kontakt treten würden.
Halten Sie mich auf dem Laufenden, und geben Sie mir Bescheid, wenn ich Ihnen noch irgendwelche Informationen oder Tipps geben kann. Es tut mir leid, dass wir hier offiziell nicht mehr für Sie tun konnten.
Viel Glück!
Denise Daddario
Sie öffnete das Attachment.
Mary Johnson,
siebenundfünfzig, frontotemporale Demenz
Cathy Roberts,
achtundvierzig, früh einsetzende Alzheimer-Krankheit
Dan Sullivan,
dreiundfünfzig, früh einsetzende Alzheimer-Krankheit
Da waren sie, ihre neuen Kollegen. Sie las sich ihre Namen immer wieder durch. Mary, Cathy und Dan. Mary, Cathy und Dan . Allmählich verspürte sie die Art gespannte Aufregung, gemischt mit kaum verhohlener Angst, die sie in den Wochen vor ihrem ersten Tag im Kindergarten, auf dem College und der Uni verspürt hatte. Wie sahen sie wohl aus? Waren sie noch berufstätig? Wie lange lebten sie schon mit ihrer Diagnose? Waren ihre Symptome dieselben, leichter oder schlimmer? Waren sie ihr überhaupt ähnlich? Was, wenn ich schon viel weiter fortgeschritten bin
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