Mein Leben Ohne Gestern
sie neben die Schalen und Becher. Sie öffnete den nächsten Schrank. Auch hier stimmte nichts. Bald war der Küchentresen überladen mit Tellern, Schalen, Bechern, Saftgläsern, Wassergläsern, Weingläsern, Töpfen, Pfannen, Tupperware,Topflappen, Geschirrtüchern und Besteck. Die ganze Küche war umgekrempelt. Also, wo hatte ich das alles vorher stehen? Der Teekessel pfiff, und sie konnte nicht mehr klar denken. Sie schaltete die Herdplatte aus.
Sie hörte, wie die Haustür aufging. Oh, gut, John kommt früher nach Hause .
»John, was hast du denn mit der Küche angestellt?«, rief sie.
»Alice, was tun Sie denn da?«
Die Stimme der Frau ließ sie zusammenzucken.
»Oh, Lauren, Sie haben mich erschreckt.«
Es war ihre Nachbarin von gegenüber. Lauren sagte nichts.
»Entschuldigung, möchten Sie sich vielleicht setzen? Ich wollte gerade Tee kochen.«
»Alice, das ist nicht Ihre Küche.«
Was? Sie sah sich in dem Raum um – schwarze Granitoberflächen, Birkenholzschränke, weiß gefliester Boden, Fenster über der Spüle, Geschirrspüler rechts neben der Spüle, doppelter Ofen. Augenblick, sie hatte keinen doppelten Ofen, oder? Dann, zum ersten Mal, fiel ihr der Kühlschrank auf. Der schlagende Beweis. Die Collage von Bildern, die hinter Magneten an der Kühlschranktür klebten, zeigte Lauren und Laurens Mann und Laurens Katze und Babys, die Alice nicht erkannte.
»Oh, Lauren, was habe ich bloß mit Ihrer Küche angerichtet? Ich helfe Ihnen, alles wieder einzuräumen.«
»Schon gut, Alice. Ist alles okay mit Ihnen?«
»Nein, nicht wirklich.«
Sie wollte nach Hause laufen, zu ihrer eigenen Küche. Konnten sie nicht einfach vergessen, was hier passiert war? Musste sie jetzt wirklich das Ich-habe-Alzheimer-Gespräch führen? Sie hasste das Ich-habe-Alzheimer-Gespräch.
Alice versuchte, Laurens Gesichtsausdruck zu lesen. Sie sah verwirrt und verängstigt aus. Ihr Gesichtsausdruck dachte:»Alice könnte verrückt sein.« Alice schloss die Augen und holte einmal tief Luft.
»Ich habe Alzheimer.«
Sie schlug die Augen auf. Laurens Miene blieb unverändert.
Jetzt sah sie jedes Mal, wenn sie in die Küche kam, zuerst am Kühlschrank nach, nur zur Sicherheit. Keine Bilder von Lauren. Sie war im richtigen Haus. Und falls das nicht alle Zweifel ausräumen sollte, hatte John in großen schwarzen Buchstaben eine Notiz geschrieben und mit einem Magneten an die Kühlschranktür geheftet.
ALICE,
GEH NICHT OHNE MICH LAUFEN.
MEIN HANDY: 617-555-1122
ANNA: 617-555-1123
TOM: 617-555-1124
John hatte ihr das Versprechen abgenommen, nicht ohne ihn laufen zu gehen. Sie hatte geschworen, hatte ihm hoch und heilig versprochen, es nicht zu tun. Aber das könnte sie natürlich vergessen.
Ihr Knöchel brauchte vermutlich sowieso eine Auszeit. Sie hatte ihn sich verknackst, als sie letzte Woche von einer Bordsteinkante getreten war. Ihre räumliche Vorstellungskraft war nicht mehr die beste, und Gegenstände schienen manchmal etwas näher oder weiter weg zu sein, als sie tatsächlich waren. Sie hatte ihre Augen untersuchen lassen. Ihr Sehvermögen war in Ordnung. Sie hatte die Augen einer Zwanzigjährigen. Es war kein Problem ihrer Hornhaut, Linsen oder Netzhaut. Der Fehler lag irgendwo bei der Verarbeitung der visuellenInformationen, irgendwo in ihrem okzipitalen Cortex, sagte John. Offenbar hatte sie die Augen einer Collegestudentin und den okzipitalen Cortex einer Achtzigjährigen.
Kein Laufen ohne John. Sie könnte sich verirren oder verletzen. Aber in letzter Zeit hatte es auch kein Laufen mit John gegeben. Er war viel gereist, und wenn er nicht verreist war, dann ging er jeden Morgen früh aus dem Haus nach Harvard und arbeitete bis spätabends. Und wenn er nach Hause kam, war er immer zu müde. Sie hasste es, auf ihn angewiesen zu sein, um laufen zu gehen, vor allem, weil sie sich nicht auf ihn verlassen konnte.
Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer am Kühlschrank.
»Hallo?«
»Gehen wir heute laufen?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht, vielleicht, ich bin in einer Besprechung. Ich rufe dich später zurück«, sagte John.
»Ich muss wirklich laufen gehen.«
»Ich rufe dich später zurück.«
»Wann denn?«
»Wenn ich kann.«
»Na schön.«
Sie legte auf, sah aus dem Fenster und dann auf die Laufschuhe an ihren Füßen. Sie zog sie aus und schleuderte sie gegen die Wand.
Sie versuchte, verständnisvoll zu sein. Er musste arbeiten. Aber warum verstand er nicht, dass sie laufen musste?
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