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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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meiner Biographie fehlte es nicht an Höhen und Tiefen, an Glanz und Elend. Meine politische Karriere war endgültig gescheitert – und mit gutem Grund. Was sollte ich, der ich keinen Beruf erlernt hatte, jetzt tun? Ich stand, nicht zum ersten Mal in meinem noch nicht langen Leben, vor dem Nichts.
    In der Zelle durfte ich lesen. Ich konnte mir von Tosia ein Buch schicken lassen, das politisch unbedenklich sein mußte. Ich entschied mich für einen deutschen Roman, für das »Siebte Kreuz« der Anna Seghers. Allerdings war die Glühbirne, die sich an der Decke hinter einem Drahtgitter befand, sehr schwach. Mehr Licht – das war im Augenblick das wichtigste. Ich bot meine ganze Energie auf, um eine größere Glühbirne zu bekommen – und schließlich wurde sie mir gegönnt.
    Während der Lektüre spürte ich immer deutlicher, daß meiner Laufbahn, die ich jetzt in Ruhe überblicken konnte, ein fatales Mißverständnis zugrunde gelegen hatte: Ich hatte geglaubt, die Politik könne meine Sache sein oder werden. Aber den Roman von Anna Seghers lesend, den ich noch heute liebe und bewundere, begriff ich, daß mich die Literatur ungleich mehr interessierte als alles andere. So überlegte ich mir in der jetzt gut erleuchteten Zelle, ob es vielleicht möglich sein könne, zur lange vernachlässigten Partnerin meiner frühen Jahre zurückzukehren – zur Literatur also.
    Nach zwei Wochen war ich wieder frei. Man hatte beschlossen, mir keinen Prozeß zu machen, sondern es bei einem Parteiverfahren bewenden zu lassen. Ich wurde in einer dramatischen Sitzung, in der mich mancher meiner bisherigen Kollegen brutal anbrüllte, aus der Partei ausgestoßen. Die offizielle Begründung lautete: wegen ideologischer Entfremdung. Ich hielt dieses Urteil für falsch. Aber nach einiger Zeit hatte ich begriffen, daß die Partei im Recht war: Früher als ich selber hatte sie meine längst erfolgte »ideologische Entfremdung« treffend erkannt.
    Etwa zu dieser Zeit wurde ich noch ins Sicherheitsministerium vorgeladen. Ich hatte eine Erklärung zu unterzeichnen, derzufolge ich mich verpflichtete, niemals ein Wort über den polnischen Geheimdienst und über alles, was mit ihm zusammenhing, verlauten zu lassen. Sollte ich mich nicht daran halten, müsse ich – darüber wurde ich mit besonderem Nachdruck belehrt – der schlimmsten und schärfsten Konsequenzen gewärtig sein. Was damit gemeint sei, dessen sei ich mir wohl bewußt. Obwohl das Wort »Todesstrafe« nicht verwendet wurde, hatte ich keinen Zweifel, worauf meine Gesprächspartner anspielten. Ich habe die Drohung sehr ernst genommen.
    Aber ich habe vom polnischen Auslands-Nachrichtendienst nie wieder etwas gehört: Man brauchte mich nicht mehr, man ließ mich in Ruhe – so schien es mir. In Wirklichkeit haben mich die polnischen Behörden nach meiner Ausreise aus Polen sehr wohl gesucht. Das erfuhr ich allerdings erst 1994 aus dem »Spiegel«, der sich Materialien der Gauck-Behörde beschafft hatte.
    Im Oktober 1958 (es waren noch keine drei Monate seit meiner Ankunft in der Bundesrepublik vergangen), da bat das polnische Innenministerium, dem jetzt der Sicherheitsdienst unterstand, die Staatssicherheit der DDR um dringende Amtshilfe. Die Sache war offenbar besonders wichtig, denn es kümmerte sich um sie – wie der »Spiegel« zu berichten wußte – der damalige Stasi-Chef Markus Wolf persönlich. Doch im November 1958 sah sich das DDR-Ministerium für Staatssicherheit genötigt, dem Ministerium des Innern der Volksrepublik Polen mitzuteilen: »Trotz mehrfacher Ermittlungen im Presseamt, im Verband der Deutschen Presse sowie durch inoffizielle Mitarbeiter konnte der Aufenthaltsort des Genannten nicht festgestellt werden.« Zu dieser Zeit wurden meine Artikel bereits in der Bundesrepublik kontinuierlich veröffentlicht – in der »Frankfurter Allgemeinen« und in der »Welt«. Die inoffiziellen Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit lasen offenbar keine Zeitungen. Ich wiederum weiß nicht, ob diese Nachforschungen mit den mir angedrohten »schlimmsten und schärfsten Konsequenzen« zu tun hatten. Sicher ist aber, daß ich viele Jahre hindurch im Grenzfahndungssystem der Ostblock-Geheimdienste erfaßt war.
    Nachzutragen bleibt: Im Herbst 1960, als ich schon über zwei Jahre in der Bundesrepublik lebte, kamen zu mir – ich wohnte damals in Hamburg – zwei Beamte vom Verfassungsschutz, einer aus Bonn und einer aus Hamburg. Sie stellten mir einige harmlose Fragen, an

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