Mein Leben
Polen. Die polnischen Intellektuellen und Künstler, zumal die Schriftsteller und die Journalisten, waren in ihrer Mehrheit keine Anhänger der Sowjetunion. Indes hielten sie sich nach den Jahren der Untätigkeit während der deutschen Besatzung an die alte englische Weisheit: Wen du nicht besiegen kannst, mit dem verbünde dich. Sie wußten, daß nur eine einzige Macht Polen vor dem Chaos schützen und den Wiederaufbau in die Hand nehmen konnte – die von der Sowjetunion eingesetzte und von den Alliierten anerkannte polnische Regierung.
Vielleicht hat auch die deutsche Literatur ein klein wenig dazu beigetragen, daß ich mich in dieser Zeit der Kommunistischen Partei Polens anschloß. Denn mich beeindruckte, mich begeisterte seit meiner Jugend ein Stück klassischer deutscher Prosa aus dem neunzehnten Jahrhundert, ein Aufruf, dessen Pathos, dessen Rhetorik, dessen Bilderreichtum mir imponierten, mich sogar bestrickten: das »Kommunistische Manifest« von Karl Marx und Friedrich Engels.
Vieles erhellt also meine Entscheidung von 1945, vieles macht sie wohl auch begreiflich. Nur möchte ich auf keinen Fall mißverstanden werden: Von heute her gesehen war sie, kein Zweifel, ein ernster Fehler. Ich habe das im Laufe der fünfziger Jahre erkannt. Aber ich wußte schon damals und weiß es jetzt erst recht: Der Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei verdanke ich Erfahrungen, die ich nicht mehr missen möchte.
Allerdings gibt es in der Zeit nach 1945 noch eine andere Entscheidung, die ich getroffen hatte, ohne ihre Folgen zu ahnen, eine zudem, die sich nie mehr korrigieren ließ. Ich sollte in London unter einem anderen Namen amtieren, da mein Familienname Reich für die Tätigkeit als Konsul nicht recht passend schien. Der Begriff Reich sei auch jenen Polen und Engländern geläufig, die kein Wort Deutsch sprächen, er erinnere zu sehr an das »Dritte Reich«. War der Name, mit dem alle Pässe unterschrieben werden mußten, zu deutsch? Oder vielleicht zu jüdisch? Jedenfalls zu wenig polnisch. Ich wollte das Ganze nicht hinauszögern, stimmte gleich zu und wählte, ohne lange zu überlegen, den Namen Ranicki. Ich dachte, das würde nur für den Aufenthalt in England gelten. Aber nachher blieb es bei diesem Namen – mein ganzes Leben lang.
Daß ich möglichst schnell in London sein wollte, hatte auch mit meiner Arbeit in Warschau zu tun. Sie machte mir nicht viel Spaß, weil ich an ihrem Sinn und ihrer Nützlichkeit zweifelte: Für die Berichte, Meldungen und Informationen, die in die Zentrale kamen, konnte ich mich nicht erwärmen. Ich fand sie meist belanglos, wenn nicht unseriös und irreführend. Sie wurden an verschiedene Instanzen des Staates weitergeleitet und natürlich an die Partei. Aber man erfuhr nie – die ewige Geheimnistuerei verhinderte es –, ob sie jemand verwertet oder auch nur gelesen hatte. Meine Fragen und Bedenken wurden ungern gehört: Es sei alles erst im Entstehen begriffen, von Kinderschuhen war die Rede und von Kinderkrankheiten. Man müsse eben Geduld haben.
Ich brauchte nicht lange Geduld zu haben, denn ich war bald in London, zwar nicht, wie geplant, 1947, aber doch Anfang 1948. Unser Leben dort war schöner, luxuriöser und auch freier als im zerstörten Warschau: Es ging uns sehr gut in den beinahe zwei Londoner Jahren. Wir hatten, wovon wir in Warschau nicht einmal träumen konnten: eine gut ausgestattete, geräumige Wohnung. Auch bekamen wir einen ziemlich großen amerikanischen Wagen.
Mit der Literatur befaßte ich mich allerdings nur wenig. Hingegen gingen wir häufig ins Theater, in die Oper, in Konzerte. Die beiden Eindrücke, die sich meinem Gedächtnis am stärksten eingeprägt haben: Wilhelm Furtwängler, der unter anderem die »Neunte« dirigierte, und Laurence Olivier, der allerlei von Shakespeare bis Anouilh spielte. Wir reisten durch England und Schottland und mitunter für ein Wochenende nach Paris. Wir verbrachten den Urlaub einmal in der Schweiz, einmal in Italien. Wir waren privilegiert.
Aber man sollte nicht meinen, ich hätte, das Leben genießend, den Dienst vernachlässigt. Der überwiegende Teil meiner Tätigkeit – achtzig, wenn nicht neunzig Prozent – war die alltägliche und glücklicherweise nicht eben anstrengende Konsulararbeit. Zunächst war ich Vize-Konsul, später wurde mir die Leitung des Generalkonsulats anvertraut, eines Amtes mit immerhin rund vierzig Angestellten. Ich wurde zum Konsul ernannt. Mit meinen 28 Jahren war ich der jüngste
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