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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Konsul in London. Das Amt funktionierte tadellos, zumal ich zwei tüchtige Stellvertreter hatte, zwei Juristen, die mir die Arbeit erleichterten.
    Und der Geheimdienst? Ich will die wahrscheinlich enttäuschende Wahrheit bekennen: Ich habe weder einen künstlichen Bart gehabt noch ein Toupet. Ich habe keine Geheimtinte benutzt, ich hatte keine Waffe, keinen Fotoapparat, keinen Fotokopierer und kein Tonbandgerät. Gewiß, einen Kugelschreiber hatte ich schon, aber ich mußte ihn mir in London kaufen: Diese Erfindung der kapitalistischen Industrie war in Polen noch nicht bekannt. Von den vierzig Angestellten des Konsulats waren außer mir noch drei oder vier für den Geheimdienst tätig. Überdies hatten wir (außerhalb des Konsulats) zehn bis fünfzehn Mitarbeiter, meist arbeitslose oder pensionierte Journalisten. Sie informierten uns regelmäßig über die polnische Emigration, deren Zentrum sich in London befand, dem Sitz der polnischen antikommunistischen Exilregierung. Für bescheidene Honorare berichteten sie ausführlich über meist belanglose Vorkommnisse jeglicher Art: über die verschiedenen Parteien und Richtungen innerhalb der Emigration, über die internen Kämpfe, die unaufhörlichen Intrigen und natürlich über einzelne Politiker.
    Vieles stammte aus Versammlungen, die meist allgemein zugänglich waren. Nur konnten sich dort Angestellte der Botschaft oder des Konsulats schwerlich blicken lassen. Neben sachlichen Informationen gab es in diesen Berichten auch Klatschgeschichten – und das war noch das Interessanteste. Manches hatten die geheimen Informanten ganz einfach den polnischen Exilzeitungen entnommen, die Herkunft ihrer Mitteilungen aber selbstverständlich verheimlicht und getarnt. Agenten in der Exilregierung, die uns hätten berichten können, hatten wir nicht, auch keine Sekretärin und keinen Portier.
    Ich selber hatte keinerlei Kontakte mit Exilpolen, wohl aber mit Engländern und, vor allem, mit deutschen Emigranten. Meine Sache war es, die verschiedenen Auskünfte und Berichte zu begutachten und nach Warschau weiterzuleiten. Das Echo, das aus der Zentrale kam, war spärlich. Das von mir allwöchentlich geschickte Material wurde wohl nur von untergeordneten Angestellten gelesen und meist flüchtig. Wünsche oder Weisungen erreichten mich nur sehr selten. Ich war, um es gelinde auszudrücken, weder ein eifriger noch ein talentierter Organisator dieses geheimen Informationsdienstes.
    Einmal immerhin konnte ich einen schönen Erfolg verbuchen. Er betraf ein Objekt, das nicht in meiner Zuständigkeit lag. Denn mit englischen Angelegenheiten beschäftigte sich der Apparat des Militärattaches in der polnischen Botschaft, mit dem ich keinerlei Kontakte haben durfte und über dessen Arbeit ich nichts wußte. In England lebte ein Cousin von mir, der kurz vor dem Krieg aus Berlin emigriert war. Er arbeitete in einer englischen Institution, die in Wilton Park, dem ehemaligen Wohnsitz des Schriftstellers und Politikers Benjamin Disraeli, untergebracht war – etwa eine Stunde Bahnfahrt von London entfernt. Dort wurden ausgewählte deutsche Kriegsgefangene von englischen und deutschen Intellektuellen, die man als Lektoren oder Dozenten bezeichnete, geschult und umerzogen: Die Kriegsgefangenen sollten in ihre Heimat als möglichst gute Demokraten zurückkehren.
    Ich kam auf die Idee, über diese Institution für die Warschauer Zentrale einen längeren Bericht zu schreiben. Man war dort an dem Thema und meinen Informationen sehr interessiert, vermutlich hatte der sowjetische Berater das Ganze an sich gerissen. Mein Ansehen stieg erheblich. Das wäre wohl kaum der Fall gewesen, hätte ich auf einen Umstand hingewiesen, den ich wohlweislich ausgespart habe: Was in Wilton Park geschah, war keineswegs geheim, jeden Journalisten, natürlich auch einen polnischen, hätte man dort, so er es wünschte, gern über alles unterrichtet. Aber die Geheimdienste schätzen nur solche Materialien, die sie von Agenten, von vertraulichen Informanten erhalten. Von dem, was allgemein zugänglich ist, was sich beispielsweise den Zeitungen entnehmen läßt, wollen sie in der Regel nichts wissen.
    Doch mein weiterer beruflicher Weg hatte mit der Qualität meiner Arbeit so gut wie nichts zu tun. Sehr bald war meine Tätigkeit in London durch die politische Entwicklung im Ostblock in Frage gestellt. Dem Konflikt zwischen der Sowjetunion und Titos Jugoslawien, also dem im Sommer 1948 erfolgten Bruch zwischen Moskau und Belgrad,

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