Mein Leben
Vaterland«. Vielleicht habe ich erst damals endgültig begriffen, daß auch ich ein »portatives Vaterland« habe: die Literatur, die deutsche Literatur.
Die Frage, ob ich Polen verlassen und nach Deutschland gehen solle, wurde bald von einer anderen verdrängt, von einer, die mich ganz in Anspruch nahm. Ich meine die praktische Frage, wie ich das machen sollte. Über Israel emigrieren und dann nach Deutschland weiterreisen? Das war sehr riskant. Denn ich mußte mit der Möglichkeit rechnen, daß die polnischen Behörden mein Gesuch ablehnten, also meine Auswanderung nicht genehmigten. Die Folgen waren leicht vorhersehbar: In einem solchen Fall drohte mir mit großer Wahrscheinlichkeit ein abermaliges Publikationsverbot. Tosia, die mittlerweile im Polnischen Institut für Internationale Angelegenheiten arbeitete, würde unweigerlich ihre Stelle verlieren. So wäre es sehr leichtsinnig gewesen, die Auswanderung zu beantragen.
Es gab einen einzigen anderen Weg, das kommunistische Polen zu verlassen. Ich mußte mich um einen Besuchsaufenthalt in der Bundesrepublik bemühen, um eine »Studienreise« – von der würde ich nicht mehr nach Warschau zurückkehren. Doch war es undenkbar, daß mir die polnischen Stellen eine solche Reise zusammen mit Frau und Kind erlauben würden. Mein Plan war, erst einmal Tosia mit unserem nunmehr neun Jahre alten Sohn Andrew Alexander zu meiner Schwester nach London zu schicken. Ich selber wollte dann nach Frankfurt fahren. Dieser Weg in den Westen hatte einen schwerwiegenden Fehler: Wir konnten, sollten wir uns für ihn entscheiden, unsere Möbel und Bücher und unsere sonstigen Habseligkeiten nicht mitnehmen, wahrscheinlich nicht einmal unsere Winterkleidung, da sie sofort Verdacht wecken würden. Das Ganze ließe sich wohl erst im Frühjahr oder im Sommer 1958 realisieren. Wir mußten also auf alles, was wir in unserer Warschauer Wohnung hatten, verzichten. Aber wir waren entschlossen, dies in Kauf zu nehmen. Und wenn es uns den vielen Schwierigkeiten zum Trotz gelänge, in den Westen zu kommen – wovon sollten wir dort leben?
Im Dezember 1957 konnte ich zum ersten Mal die Bundesrepublik besuchen. Ich war zehn oder zwölf Tage in Hamburg, Köln, Frankfurt und München. Ich habe mit vielen Schriftstellern und Journalisten gesprochen. Aber keinem habe ich gesagt oder auch nur angedeutet, woran ich täglich, ja stündlich in der Bundesrepublik dachte: An meine feste Absicht, der kommunistischen Welt möglichst bald zusammen mit meiner Familie den Rücken zu kehren und mich in einer bundesdeutschen Stadt niederzulassen. Während ich mich also mit diesen freundlichen, diesen überaus zuvorkommenden Herren unterhielt, überlegte ich mir, wie sie sich – der reiche Verleger, der wichtige Feuilletonchef, der bekannte Romancier – mir gegenüber wohl verhalten würden, wenn ich im nächsten Jahr bei dem einen oder anderen nicht mehr als Gast aus Warschau vorspräche, als einflußreicher Kritiker deutscher Bücher in Polen, sondern als hilfsbedürftiger Flüchtling, als mittelloser Literat auf der Suche nach Arbeit und Brot.
Meine Erkundungsreise im Dezember 1957 begann in Hamburg. Jemand hatte den Norddeutschen Rundfunk darauf aufmerksam gemacht, daß es sich vielleicht lohne, ein ausführliches Interview mit mir zu machen. Das war mir sehr recht, denn der mir in Warschau genehmigte Betrag in Westmark reichte für kaum mehr als für Übernachtungen in billigen Hotels. Vor dem Haus des Senders, wo ich warten sollte, kam ein Mann auf mich zu, sehr jung, sehr blond und etwas schüchtern. Er sollte mich interviewen. Ob so ein Anfänger es einigermaßen schaffen würde? Das zeigte sich rasch: Er machte es routiniert und vorzüglich. Das Honorar war stattlich.
Nach dem Gespräch sagte er nebenbei und, wie mir schien, vertraulich, er habe schon zwei, ja, sogar drei »Büchlein« geschrieben und nicht ganz ohne Echo publiziert. Daß das dritte dieser Bücher ein regelrechter Bestseller war, verschwieg der zurückhaltende junge Mann. Und daß er nur wenige Jahre später einen der erfolgreichsten deutschen Romane nach 1945 schreiben würde, die »Deutschstunde«, konnten wir damals beide nicht ahnen. Trotz der kühlen Witterung gingen wir auf der Rothenbaumchaussee spazieren, dann lud mich Siegfried Lenz zum Mittagessen am nächsten Tag ein. Das Essen war sehr gut, das Gespräch angeregt. Es ging um Kafka. Ich hörte zu und achtete nicht darauf, was ich verspeiste. Beim Nachtisch fiel mir ein,
Weitere Kostenlose Bücher