Mein Leben
nichts wissen wollte: Wolfgang Koeppen; und einen unbedeutenden Schriftsteller, der in das literarische Leben verliebt war: Hans Werner Richter. Im Zug, in dem ich kurz vor Weihnachten 1957 nach Warschau zurückkehrte, wußte ich endgültig: Ich mußte alles tun, was in meiner Macht war, um Polen und die kommunistische Welt zu verlassen.
Junger Mann mit mächtigem Schnurrbart
Die ersten Monate des Jahres 1958 waren meine letzten in Polen. Eine sonderbare, eine aufregende Zeit war es. Viele unserer jüdischen Freunde bereiteten ihre Auswanderung vor – die meisten nach Israel. Es herrschte Aufbruchstimmung, doch eine melancholische. Denn diese Menschen, die mit dem Judentum nur wenig oder gar nichts gemein hatten, hielten sich allesamt für Polen. Und sie alle hatten an den Kommunismus große Hoffnungen geknüpft. Nach der Überwindung vieler Anfangsschwierigkeiten werde in Polen ein gerechter Staat entstehen, eine Gesellschaft, in der es auch für Juden Platz geben werde. Davon waren sie überzeugt.
Aber sie wurden bitter enttäuscht. Man hatte sie in den ersten Nachkriegsjahren dringend gebraucht. Jetzt wurden sie nicht mehr benötigt, man war zufrieden, wenn sie Polen verließen. Noch hatte man sie nicht vertrieben – das erfolgte erst später, um 1968, als die Juden, darunter viele Parteimitglieder und auch alte Kommunisten, als Feinde des neuen Polen galten und als »Zionisten« angeprangert wurden. Sie mußten glücklich sein, daß es ein Land auf Erden gab, das sie jederzeit aufzunehmen bereit war: Israel.
Auf einem der Bahnsteige des immer noch primitiven, immer noch nicht wiederaufgebauten Warschauer Hauptbahnhofs waren wir jetzt nicht selten – um Freunde und Bekannte zu verabschieden. Manche fragten uns, wann wir uns wiedersähen. Auch NichtJuden, die selber nicht auf die Idee kamen zu emigrieren, waren mitunter ein wenig verwundert, warum wir keinerlei Anstalten machten, Polen zu verlassen – ohne uns direkt danach zu fragen. Wir hüteten uns, irgend etwas zu sagen oder zu tun, was den Verdacht aufkommen lassen könnte, daß auch wir beabsichtigten, uns auf den Weg zu machen und im Westen ein neues Leben zu beginnen. Sollte unser Plan gelingen, dann mußte er unbedingt geheimgehalten werden: Keine einzige Person, keiner unserer Freunde und auch nicht unser neunjähriger Sohn durfte ahnen oder gar wissen, daß wir von unseren gleichzeitigen Besuchsreisen nach England und nach Deutschland nicht mehr zurückkehren wollten.
Die beabsichtigte heimliche Übersiedlung – eine Übersiedlung freilich ohne Umzugsgut und mit so geringem Gepäck, daß es uns nicht gefährden konnte – erforderte viele Entscheidungen. Nur einen Kummer hatten wir nicht, nur eine Angelegenheit bedurfte keiner Entscheidung: Die Frage nämlich, was mit unserem Geld geschehen solle. Wir hatten keines, wir lebten ständig von der Hand in den Mund, immer warteten wir auf das nächste Gehalt, auf das nächste Honorar. Schön war das nicht, aber so furchtbar haben wir nicht darunter gelitten, vielleicht deshalb, weil auch die meisten unserer Freunde in einer ähnlichen Situation waren.
Doch wovon sollten wir außerhalb Polens den Unterhalt – und sei es den bescheidensten – bestreiten? Vorerst schrieb ich für die »Welt« einige Berichte über Theater und Literatur in Warschau und ließ die Honorare auf einem Konto in der Bundesrepublik deponieren. Das würde für zwei, bestenfalls für drei Wochen reichen. Aber diese Arbeit konnte ich, wenn ich schon in Deutschland war, schwerlich kontinuieren. Würden die westdeutschen Zeitungen bereit sein, meine Kritiken zu drucken? Ich hatte es schon versucht, mich in der DDR ein wenig als Kritiker zu betätigen: Die Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur« veröffentlichte 1956 und 1957 – offenbar gern – einige meiner Aufsätze. Sie blieben nicht ohne Echo. Doch im Westen las niemand die »NDL«, und dort waren die Ansprüche gewiß viel höher. Sollte es mir nicht gelingen, als Kritiker Arbeit zu finden – ich habe mit dieser Möglichkeit sehr wohl gerechnet –, dann vielleicht als Übersetzer aus dem Polnischen?
So hielt ich es für nötig, mir wenigstens ein großes deutsch-polnisches und polnisch-deutsches Wörterbuch zu beschaffen. Nur eins kam in Frage, ein vierbändiges, durchaus brauchbares Werk, das, 1904 in Wien publiziert, längst vergriffen war. In einem Warschauer Antiquariat erwarb ich für viel Geld zwei dieser Bände, aber die anderen beiden waren nirgends zu
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