Mein Leben
aber ich habe nie erfahren, warum es mir zunächst verweigert worden war. Angeblich handelte es sich bloß um einen nicht hinreichend ausgefüllten Fragebogen. Im Dezember 1957 hat dann meine lange geplante Reise in die Bundesrepublik stattgefunden.
Als ich 1958 entschlossen war, Polen zu verlassen und, wenn möglich, in Deutschland zu leben, mußte ich, da ein polnischer Auslandspaß immer nur für eine Reise gültig war und nach der Rückkehr wieder abgeliefert werden mußte, einen neuen Paß beantragen. Er sollte mich, wie es offiziell hieß, zu einem »Studienaufenthalt« in der Bundesrepublik von höchstens drei Monaten berechtigen.
Wieder gab es Schwierigkeiten, diesmal nicht von deutscher Seite. Da für solche Reisen keine Devisen genehmigt wurden, verlangten die polnischen Behörden, daß ich die Erklärung eines bekannten Bürgers der Bundesrepublik beschaffe, der sich verpflichten würde, meinen Lebensunterhalt im Westen, falls notwendig, zu finanzieren. Wieder wandte ich mich an Böll, der gerade seinen Urlaub im Tessin verbrachte. Das erforderliche Dokument sandte er mir postwendend. Übrigens mußte ich von dieser Erklärung, da sich inzwischen die polnischen Paßvorschriften wieder einmal geändert hatten, nicht mehr Gebrauch machen. Später, als ich schon in der Bundesrepublik war, hat er mich nie an diese Unterhaltsgarantie erinnert. Wahrscheinlich war ihm die Sache längst entfallen. Aber ich habe ihn immer noch, diesen vom 8. Mai 1958 datierten Brief Heinrich Bölls mit der amtlichen Beglaubigung seiner Unterschrift.
Wir waren noch nicht lange in der Bundesrepublik, da kam Böll nach Frankfurt, um uns in dem ärmlichen möblierten Zimmer, in dem wir wohnten, zu besuchen. Er brachte einen Blumenstrauß mit. Tosia sagte mir später: »Er ist der erste Deutsche, von dem ich einen Blumenstrauß bekommen habe.« Und ich dachte mir im stillen: Vielleicht ist er jetzt überhaupt der erste Deutsche.
Gleich fragte uns Böll, ob wir Geld benötigten und was er sonst für uns tun könne. Ich brauchte kein Geld. Es ging uns nicht üppig, aber es wäre übertrieben, wollte ich sagen, daß wir Not gelitten hätten. Denn meine Artikel wurden gedruckt und, wie damals üblich, schlecht honoriert, meine Funkarbeiten gesendet und, wie damals üblich, gut entlohnt. Als Böll das hörte, sah er mich scharf an und sagte: »Sie werden in den nächsten Wochen wie jeder Neuankömmling viel mit Behörden zu tun haben. Deutsche Behörden verlangen oft Zeugenaussagen. Vergessen Sie es nicht: Ich bin ein sehr guter Zeuge, ich stehe immer zu Ihrer Verfügung.« Und er lächelte schelmisch.
Daß er anderen oft und gern half, darüber hat er nie geredet: Das war für ihn kein lohnendes Thema. Nur einmal besprach er mit mir eine etwas waghalsige Hilfsaktion. Es ging darum, eine Bürgerin der Tschechoslowakei, die sich lange und ohne Erfolg um eine Ausreisegenehmigung bemüht hatte, auf illegale Weise herauszuholen. Wir erörterten verschiedene Möglichkeiten. Wenige Tage später fuhr Böll mit seinem Auto nach Prag und brachte die Tschechin mit einem gefälschten bundesdeutschen Paß über die Grenze, zunächst nach Jugoslawien. Von dort schickte er mir eine Postkarte: »Nur rasch die Mitteilung, daß die Sache, über die ich mit Ihnen sprach, geklappt hat… Später mal Einzelheiten – sicher ist nur: Wir leben in einer seltsamen Welt!«
Ich habe über Böll viel geschrieben – zunächst 1957 in Polen und dann ab 1958, immer wieder, in der Bundesrepublik. Ich habe ihn gelobt und gerühmt, ich habe nicht wenige seiner Bücher mißbilligt und getadelt. Zu oft, zu streng? Ich kann die Frage nicht beantworten, doch weiß ich, daß ich ihm nur dann Schmerzen bereitet habe, wenn ich glaubte, dies tun zu müssen. Und daß ich selber dabei Schmerzen empfunden habe. Ich bewundere nach wie vor einige seiner Satiren und Kurzgeschichten, vor allem »Doktor Murkes gesammeltes Schweigen«. Von seinen Hauptwerken allerdings, Romanen also, halte ich nicht sehr viel. Vorsichtiger ausgedrückt: Die meisten blieben mir fremd. Die Prosa von Wolfgang Koeppen oder Max Frisch stand und steht mir näher.
Mein Buch über Böll habe ich »Mehr als ein Dichter« betitelt. Das sei, meinten manche Kollegen, nicht nur als Kompliment zu verstehen. Er selber hörte es gar nicht gern, wenn man ihn als Moralisten bezeichnete, er wollte lieber als Künstler gelten. Als ich einmal in einem Telefongespräch seine Anschauungen in irgendeiner neuen Arbeit
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