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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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daß es sich doch schicke, der Gastgeberin etwas Anerkennendes über die Qualität des Essens zu sagen, und gleich bemerkte ich: »Das Schnitzel war hervorragend.« Dies aber war ein peinlicher Irrtum. Am Tisch wurde es plötzlich ganz still. Denn was ich zu mir genommen hatte, war gar kein Schnitzel, sondern ein Steak oder ein Kotelett. In der Tat, sehr peinlich.
    An meinen Fauxpas wurde ich noch oft erinnert, jahrelang. Aber wann immer mir vorgeworfen wurde, ich hätte erstaunlicherweise ein Steak für ein Schnitzel gehalten (oder umgekehrt), pflegte Lenz, ein nachsichtiger Mensch, mich in Schutz zu nehmen. Er wies darauf hin, daß doch damals von einem großen Thema die Rede gewesen sei, von Franz Kafka – womit Lenz wohl sagen wollte, daß dieser Umstand meine Sünde verzeihlicher mache. Aber Lenz weiß bis heute nicht, daß auch ihm ein Irrtum unterlaufen war. Während ich nämlich an seinem Tisch saß und aß und mich mit ihm unterhielt, da dachte ich überhaupt nicht an Kafka. Ich dachte an meine Zukunft in Deutschland.
    Ich fragte mich, wie dieser junge Mann mich, sollte ich in einigen Monaten an seine Tür als Bittsteller klopfen, behandeln werde. Während ich über Kafkas Leiden am Judentum sprach (um nicht zu sagen: dozierte), beantwortete ich die Frage, die ich mir selber gestellt hatte. Er, dieser blonde und etwas schüchterne junge Mann, würde mich zu allen potentiellen Arbeitgebern in Hamburg führen, zu Verlegern, Redakteuren und Rundfunkleuten. Er würde ihnen dringend nahelegen, mir Aufträge zu erteilen. Er würde in meiner Sache Briefe an Kollegen in Köln und Frankfurt schicken, in München und Baden-Baden. Er würde mich in jeder Hinsicht beraten, und er würde mir ohne jedes Aufheben Geld anbieten, soviel ich wünschte. Ich dachte mir: Solange solche Menschen wie Siegfried Lenz in diesem Lande leben, kann ich es wagen, ohne einen Pfennig in der Tasche herzukommen. Ich werde hier nicht untergehen. Woher rührte mein Vertrauen zu ihm, den ich am Vortag zum ersten Mal im Leben gesehen hatte? Ich weiß es nicht. Wohl aber weiß ich, daß ich mich nicht getäuscht habe, daß alles so gekommen ist, wie ich es vermutet und gehofft hatte. Ich werde es nicht vergessen.
    Aber ich weiß auch, daß ich Siegfried Lenz einen Schmerz zugefügt habe, der ihm, glaube ich, lange zu schaffen machte. In meinem Buch »Deutsche Literatur in West und Ost«, das 1963 erschienen ist, habe ich, wie es sich gehört, auch seinem Werk ein Kapitel gewidmet. In ihm findet sich Freundliches und Respektvolles, doch auch Skeptisches. Anders, meinte ich, sei es nicht möglich, ich dürfe mich von der Freundschaft nicht korrumpieren lassen. So steht im Mittelpunkt des Kapitels über Lenz die These, er sei ein Erzähler, dessen Talent sich in der Kurzgeschichte zeige oder in der Novelle, viel seltener hingegen im Roman: Er sei ein geborener Sprinter, der sich in den Kopf gesetzt habe, er müsse sich auch als Langstreckenläufer bewähren.
    Kein Romanautor liest derartiges gern. Da hilft es nicht, daß man an hehre Beispiele aus der Vergangenheit erinnert: Auch Tschechow, Maupassant und Hemingway waren stärker in kleinen epischen Formen als im Roman. Es hilft nicht, daß man auf Autoren der Gegenwart verweist – wie Marie Luise Kaschnitz oder Heinrich Böll, für die dies ebenfalls gilt.
    Hätte ich, über Lenz schreibend, meine wahren Ansichten, die, wie ich glaube, auch der so populäre, so berühmte Roman »Deutschstunde« nicht widerlegen konnte, verheimlichen sollen? Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte habe ich zwar gern bei allerlei Gelegenheiten, Jubiläen zumal, über Lenz geschrieben und gesprochen, doch mich gehütet, je wieder sein Werk in einer literarkritischen Arbeit zu behandeln. Siegfried Lenz hat für diese strenge Enthaltsamkeit viel Verständnis. Auch dafür bin ich ihm dankbar.
    Von Hamburg fuhr ich nach Köln, wo mich Heinrich Böll auf dem Bahnsteig wie einen alten Freund begrüßte. Er fragte mich, was ich denn in seiner Geburtsstadt sehen wolle. Zunächst einmal wollte ich den Dom besichtigen. Er war ein wenig enttäuscht, daß ich dasselbe wünschte wie jeder Tourist: In Köln seien die kleineren katholischen Kirchen schöner und wichtiger. Neben Lenz war Böll der zweite, dessen Existenz mich etwas optimistischer der Zukunft in der Bundesrepublik entgegensehen ließ.
    In Frankfurt traf ich einen ziemlich robust wirkenden Verlagsangestellten, der mir ein wenig unsicher und linkisch vorkam und zugleich

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