Mein Leben
nicht an ihre vielen Versprechen. Schon nach kurzer Zeit hatte man allen Anlaß, von allmählicher, doch unverkennbarer »Restalinisierung« zu sprechen. Wieder eine neue Linie? Ja, aber sie betraf am wenigsten das Kulturleben. In den polnischen Verlagen konnten endlich auch westdeutsche Autoren erscheinen, und die leidige Regel, daß nur diejenigen Bücher in den Zeitungen und Zeitschriften besprochen werden durften, die in polnischer Übersetzung zugänglich waren, galt nicht mehr.
So konnte ich mich ab 1956 intensiv mit westlicher Literatur beschäftigen. Ich schrieb nicht nur über die Schriftsteller der älteren Generation, sondern auch über die in Polen meist noch unbekannten Repräsentanten der Nachkriegsliteratur (wie Frisch und Koeppen, Böll und Andersch, Martin Walser und Siegfried Lenz). Ich betätigte mich (zum ersten Mal in meinem Leben) auch als Übersetzer. Mit meinem Freund, dem polnischen Kritiker Andrzej Wirth, der später an amerikanischen Universitäten lehrte und 1982 an der Universität Gießen ein Institut für angewandte Theaterwissenschaft gegründet und bis 1992 geleitet hat, übersetzte ich Kafkas »Schloß« in der Bühnenfassung von Max Brod und Dürrenmatts »Der Besuch der alten Dame«.
Es ging mir also damals nicht schlecht: Man hat mich weder diskriminiert noch schikaniert. Mein Ausschluß aus der Partei wurde Anfang 1957 wieder aufgehoben, was ich aber nicht erfahren habe, weil man es aus irgendeinem Grund unterlassen hatte, mich zu benachrichtigen. Daß ich nicht mehr verfemt war, bekam ich sehr wohl zu spüren: Ähnlich wie andere Bürger konnte auch ich, von der neuen Freizügigkeit profitierend, ins Ausland reisen und jetzt nicht nur innerhalb des Ostblocks. Ich war 1957 zunächst in Österreich und dann in der Bundesrepublik.
Aber das Klima in Polen wurde unheimlich, zumal für die Juden. So klein ihre Zahl im Vergleich zur Vorkriegszeit auch war, so hatten sie doch im öffentlichen Leben des kommunistischen Polen eine große Rolle gespielt. Jetzt, da die Partei (nicht zuletzt unter sowjetischem Druck) bemüht war, die Anhänger und Vorkämpfer des »Tauwetters« im Zaume zu halten, brauchte man Sündenböcke. Die ohnehin, gelinde gesagt, unbeliebten Juden, vor allem die jüdischen Intellektuellen, waren hierzu, wie eh und je, besonders geeignet. Es konnte den Juden auch nicht entgehen, daß, sobald dem Volk größere Freiheiten eingeräumt wurden, heftige antisemitische Vorurteile und Ressentiments zum Vorschein kamen. Schlimmer noch: Die Ressentiments wurden von manchen der Funktionäre an der Spitze der Partei ohne Pardon geschürt, von anderen jedenfalls nicht bekämpft. Die Juden standen vor einer neuen Situation: Sie konnten emigrieren, vor allem nach Israel. Aber wurde ihnen die Auswanderung von den polnischen Behörden erlaubt oder vielleicht gar empfohlen?
Auch mich haben die antisemitischen Stimmungen und die gelegentlichen Übergriffe in hohem Maße irritiert und verunsichert. Ich fragte mich, was ich in diesem Land, in dem ich zwar geboren worden, in das ich aber nicht freiwillig zurückgekehrt war, noch zu suchen hätte. Ich habe nie auch nur einen Augenblick vergessen, wem ich es verdankte, daß ich den Zweiten Weltkrieg überleben konnte. Aber was ich schon empfunden hatte, als ich zum ersten Mal nach dem Krieg wieder in Berlin gewesen war, das machte sich nun, zehn Jahre später, noch stärker bemerkbar: Soviel ich auch in polnischer Sprache publiziert hatte (freilich immer nur über deutsche Literatur), so sehr ist mir Polen doch fremd geblieben. War es je meine Heimat? An den Kommunismus glaubte ich längst nicht mehr. Hatte es dann noch Sinn, hier zu leben?
Was ich 1957 und 1958 in Polen über deutsche Bücher schrieb, ließ mich erst recht und aufs neue zweifeln, ob ich mich an die richtigen Adressaten wandte. So hatte ich eine größere Arbeit über Hermann Hesse veröffentlicht. Aber wer in Polen wollte über ihn, über seinen Weg und sein Werk, gründlich und genau informiert werden? Heute sehe ich, daß ich, diese Aufsätze in polnischer Sprache schreibend, doch schon an deutsche Leser dachte – auch wenn ich mir dessen nicht ganz bewußt war.
Die Juden – heißt es bei Heine – »wußten sehr gut, was sie taten, als sie bei dem Brande des zweiten Tempels die goldenen und silbernen Opfergeschirre, die Leuchter und Lampen« im Stich ließen und nur die Bibel retteten und ins Exil mitnahmen. Die Schrift, die heilige, wurde ihr »portatives
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