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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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auszusprechen. Sie konnten gar nicht verstehen, daß wir glücklich waren, endlich Pässe zu haben, die unsere Existenz absicherten und die uns, wenn wir nur das Fahrgeld hatten, Reisen ins Ausland ermöglichten. Der Kritiker Willy Haas, der in der Weimarer Republik die »Literarische Welt« herausgegeben hatte, einige Jahre zuvor aus dem Exil in Indien zurückgekehrt war und jetzt in Hamburg beinahe Denkmalschutz genießen durfte, fragte mich bekümmert, was mir an der Bundesrepublik denn eigentlich gefalle. Ich antwortete: »Zunächst einmal: Daß man sie jederzeit verlassen kann.« Haas war sprachlos. Denn er hatte nie in einem Staat gelebt, der seine Bürger wie Häftlinge behandelte.
    Mit den neuen Pässen in der Tasche eilten wir zum nächsten Reisebüro. Wir wollten erfahren, wie man am billigsten nach London kommen könne. Denn wir wollten so schnell wie möglich den mittlerweile zehnjährigen Andrew sehen. Kaum hatte er mich in London begrüßt, da stellte er mich zur Rede und machte mir einen ernsten Vorwurf: Ich hätte ihn doch ruhig in unseren Übersiedlungsplan einweihen können, er hätte niemandem verraten, daß wir im Westen bleiben wollten. Was er davon gehabt hätte, wollte ich wissen. Er hätte sich, sagte er traurig, aus Warschau etwas mitgenommen. Ja, aber was denn? Seine Antwort verblüffte mich: In Warschau habe er gerade den Roman »Quo vadis« von Henryk Sienkiewicz gelesen, den hätte er so gern mitgenommen und weitergelesen. Nicht einem Spielzeug trauerte der Zehnjährige nach, sondern einem Buch. Den Roman »Quo vadis« habe ich ihm noch am selben Tag gekauft.

 
Die »Gruppe 47« und ihre First Lady
     
    Auf der Jahrestagung der »Gruppe 47« im Herbst 1958 in Großholzleute im Allgäu kümmerte sich niemand um mich. Die meisten Teilnehmer – viele hatten sich seit der letzten Tagung vor einem Jahr nicht mehr gesehen – waren miteinander beschäftigt. An einem Besucher aus Warschau war also kaum jemand interessiert. Aber der Erzähler und Lyriker Wolfgang Weyrauch kam auf mich zu, nicht ohne Grund: Als ich Ende 1957 in Hamburg war, hatte er mich gefragt, ob ich ihm helfen könne: Der Polnische Rundfunk hatte ein Hörspiel von ihm gesendet, wollte ihm jedoch ein Honorar in Devisen nicht überweisen. Ich intervenierte in Warschau – und er erhielt ein nicht karg bemessenes Honorar in westlicher Währung. Jetzt dankte er mir überschwenglich für meine kollegiale Hilfe. Wir plauderten angeregt. Nach wenigen Sätzen teilte ich ihm mit, daß ich nicht mehr nach Polen zurückkehren würde. Weyrauch blickte etwas verwirrt, sagte unvermittelt, er habe noch einiges zu erledigen, wandte sich von mir ab und verschwand. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Auch andere Autoren, solche zumal, die als links galten, machten um mich, als sie hörten, ich beabsichtigte, im Westen zu bleiben, einen großen Bogen.
    Noch bevor ich der Einladung Hans Werner Richters gefolgt und nach Großholzleute gekommen war, wußte ich, daß die »Gruppe 47« eine höchst sonderbare Organisation war: Sie hatte weder eine Satzung noch einen Vorstand, sie war kein Verband, kein Verein, kein Klub und keine Gesellschaft. Eine Mitgliederliste gab es nicht. Aufdringliche Fragesteller wurden von Richter belehrt: »Wer Mitglied ist, weiß nur ich, aber ich sage es niemandem.«
    Daß Schriftsteller schwierige Menschen mit ausgeprägten individualistischen, häufig anarchischen Neigungen sind, war mir längst bekannt. Meist ist es vergeblich, sie unter einen Hut bringen zu wollen. Nichts verabscheuen sie mehr als die Auftritte von Kollegen, die vortragen, was sie verfertigt haben. Aber bei der »Gruppe 47« war alles anders, das Organisatorische kannte kein Vorbild, die Tagungen knüpften an keinerlei Tradition an. Hier, das fiel sofort auf, ging es diszipliniert zu, hier war Ordnung, deutsche Ordnung. Alle hielten sich an ein genau festgelegtes, wenn auch niemals schriftlich fixiertes Ritual.
    Nach der Lesung eines Prosastücks oder, seltener, einiger Gedichte folgte ohne Pause die spontane mündliche Kritik, an der jeder der Anwesenden teilnehmen konnte, auf die aber der Autor unter keinen Umständen und mit keinem Wort reagieren durfte. Manch einer fand diese Prozedur grausam. Doch abgesehen davon, daß keiner verpflichtet war, sich einer derartigen Kritik zu stellen, wurde jedes Urteil, kaum gefällt, von anderen Teilnehmern der Tagung, insbesondere von den Berufskritikern, in Frage gestellt und korrigiert, ergänzt und

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