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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Arbeitssuche gehen. Was wollte ich machen? Da gab es für mich keinen Zweifel: Ich wollte tun, was ich bisher in Polen getan hatte – ich wollte zumindest versuchen, auch in Deutschland als Kritiker tätig zu sein. Würde es gelingen? Ich war mir durchaus nicht sicher. Mir blieb nichts anderes übrig als an viele Türen zu klopfen. Ich mußte mit direkten oder indirekten Zurückweisungen, mit Niederlagen rechnen. Auf einen Versuch kam es an, auf mehrere. Ich mußte aus finanziellen Gründen sofort handeln – zunächst an Ort und Stelle, in Frankfurt.
    Eine demütigende Situation? Ja, aber ich habe es so nicht empfunden. Für mich war es eher eine Herausforderung. Ich war fest entschlossen, auf keinen Fall als Verfolgter oder als hilfsbedürftiger Emigrant aufzutreten, als Bittsteller. Ich las die Literaturseiten der wichtigsten Zeitungen und dachte mir: Hier wird auch nur mit Wasser gekocht. Ich sagte mir: Ich werde es ihnen schon zeigen. Und: Man muß natürlich oben anfangen. Kaum in Frankfurt angekommen, ging ich zur »Frankfurter Allgemeinen«. Ich meldete mich beim Feuilletonchef Hans Schwab-Felisch. Er sprach mit mir freundlich und nüchtern. Daß wir beide einst gleichzeitig in Berlin zur Schule gegangen waren, erleichterte unser Gespräch.
    Ob ich vielleicht ein Manuskript mitgebracht hätte – wollte er wissen. Ich zog es aus der Tasche. Es war ein Aufsatz aus Anlaß eines neuen Buches des in Polen sehr geschätzten Jarosław Iwaszkiewicz. Schwab-Felisch machte sich an die Lektüre, er las langsam und sorgfältig – und als er fertig war, fing er noch einmal an. Ganz kühl und wie nebenbei sagte er: »Ja, das ist in Ordnung. Wir werden es noch in dieser Woche bringen.« Ich fragte: »Wollen Sie kürzen?« Er antwortete knapp: »Nein.« Ich hätte in Polen, teilte ich ihm mit, mich stets des Pseudonyms »Ranicki« bedient, doch mein wirklicher Name sei »Reich«. Wie ich jetzt meine Beiträge zeichnen solle? Er reagierte prompt: »Machen Sie es wie ich, nehmen Sie einen Doppelnamen, aber unbedingt erst den einsilbigen, dann den anderen – schon aus rhythmischen Gründen.« Das leuchtete ein, ich zögerte nicht: »Einverstanden, schreiben Sie: Marcel Reich-Ranicki.«
    Für Buchbesprechungen sei er, so Schwab-Felisch, nicht zuständig, da müsse ich beim Chef des Literaturteils der »Frankfurter Allgemeinen«, bei Professor Friedrich Sieburg, vorsprechen. Er nannte diesen Namen mit einem zweideutigen Lächeln, ironisch schmunzelnd – so schien es mir jedenfalls. Sieburg galt zu jener Zeit als Deutschlands originellster und mächtigster Literaturkritiker – und zugleich, wie in diesem Gewerbe seit eh und je üblich, auch als der unzweifelhaft umstrittenste. Ein betont konservativer Schriftsteller und Journalist, war er ein entschiedener Gegner, wenn nicht ein Verächter der neuen deutschen Literatur, jener zumal, die linken Einfluß erkennen ließ.
    Er hatte viele Leser und viele Bewunderer, doch auch an Gegnern und erbitterten Feinden fehlte es Sieburg nicht. Und er erfreute sich des Rufs eines vorzüglichen Stilisten: Melodisch schrieb er und zugleich immer exakt, er hatte eine nicht alltägliche Vorliebe für das Saloppe, andererseits auch für eine würdevolle, leicht antiquierte Ausdrucksweise – was die einschmeichelnde Wirkung seiner Diktion noch gesteigert hat. Über seine Vergangenheit im »Dritten Reich« hörte man allerlei. Sicher ist, daß es ihm in dieser Zeit sehr gut gegangen ist: Während des Krieges war er vorwiegend im diplomatischen Dienst. Ich hatte Anlaß genug, ihm zu mißtrauen. Daß er nicht mein Förderer oder gar mein Freund sein werde, das war mir klar.
    Im Württembergischen wohnend, waltete Sieburg seines Amtes in der »Frankfurter Allgemeinen« postalisch oder telefonisch: In der Frankfurter Redaktion ließ er sich in der Regel nur alle vierzehn Tage blicken, jeweils am Dienstag. Schwab-Felisch informierte ihn über mich. Das Gespräch mit Sieburg fand am nächsten Dienstag statt, gegen fünfzehn Uhr. Er trug einen eleganten Tweedanzug, an seiner Hand sah ich einen schönen, vielleicht allzu schönen Ring. Sieburg hatte es offensichtlich sehr eilig, es näherte sich der Grenze der Unhöflichkeit. Ich hatte den Eindruck, er sei heute früh aus London gekommen, müsse abends einen Termin in Lissabon wahrnehmen und habe morgen ein Mittagessen in Istanbul.
    So kam er sofort zur Sache. Worüber ich denn für die »Frankfurter Allgemeine« schreiben möchte? Mir sei aufgefallen,

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