Mein Leben
revidiert. Allgemeine Erwägungen über Literatur oder auch nur über bestimmte Schriftsteller waren unerwünscht. Man hatte dicht am Text zu bleiben. Es herrschte eine ernste und angespannte, bloß ganz selten eine ausgelassene Stimmung.
Das Wichtigste aber: Ausnahmslos alle akzeptierten, daß an der Spitze der »Gruppe 47« ein Mann stand, den niemand gewählt, den niemand mit Vollmachten ausgestattet hatte und der dennoch eine uneingeschränkte Macht ausübte: Hans Werner Richter. Er hatte diese »Gruppe« 1947 gegründet. Als ich 1958 dazustieß, war er fünfzig Jahre alt und etwa zehn bis zwanzig Jahre älter als die meisten Teilnehmer. Er wurde anerkannt als jovialer Organisator, umsichtiger Gesprächsleiter, als gutmütiger und doch strenger Herbergsvater, letztlich als Diktator. Von ihm hing es ab, wer zur Tagung eingeladen wurde und wer ein Manuskript vorlesen durfte, er, Richter, hatte das Recht, jede Lesung ohne Begründung abzubrechen, er entschied, wer wann und wie lange in der Diskussion reden konnte, er bestimmte, ob der Preis der »Gruppe 47« vergeben wurde.
Alle gehorchten ihm, auch längst arrivierte, auch berühmte Autoren: Wer sich nicht fügen wollte, hatte nur die Möglichkeit, den Tagungen fernzubleiben. Auf dem Treffen im schwedischen Sigtuna – es war 1964 – sagte Richter um die Mittagszeit, man sei vorerst mit den Lesungen fertig. Einige der Anwesenden standen gleich auf. Hierauf Richter: »Halt, ich habe noch nicht gesagt, daß wir schon Pause machen.« Wie brave Schulkinder setzten sie sich alle wieder hin: Enzensberger und Erich Fried, Heißenbüttel und Hubert Fichte, Alexander Kluge und Jürgen Becker. Richter sah dies mit deutlicher Genugtuung und erklärte knapp: »Pause.« So hat er regiert – energisch und humorvoll, unfeierlich und lässig.
Worauf beruhte seine Autorität? Er war der Sohn einfacher Leute (der Vater ein Fischer), die sich um seine Erziehung offensichtlich kaum gekümmert hatten. Er habe, wie er selber sagte, nichts erlernt, er habe sich nichts erarbeitet, das meiste sei ihm zugeflogen. Seine Bildung, auch die literarische, war und blieb dürftig. Die Politik interessierte ihn mehr als die Literatur, er war eher ein Journalist als ein Schriftsteller. Richters Romane, heute längst vergessen, sind allesamt schwach. Von moderner Literatur hatte er keine Ahnung. Aber er war klug genug, sich gute Ratgeber zu holen und ihren Empfehlungen und Warnungen beinahe immer zu folgen. In den Diskussionen enthielt er sich literarischer Urteile. Nie konnte ich mich des Verdachts erwehren, daß für Richter die Lesungen nur ein notwendiges Übel waren. Und doch trifft zu, daß dieser leidenschaftliche Dilettant die ganze Zunft liebte, wenn auch auf sehr kritische Weise, und daß er sich immer wieder von seiner Schwäche für die Vereinsmeierei treiben ließ: Nicht die Literatur brauchte er, sondern die Autoren; es machte ihm Spaß, ihnen zu schmeicheln und mit ihnen diplomatisch umzugehen.
Wurde er von den Leuten der »Gruppe 47« als Intellektueller, als Erzähler denn überhaupt ernst genommen? Von den meisten wohl kaum. Doch wurde er sehr wohl respektiert – als Chef. Gerade weil Richter sich nicht als Künstler verstand, weil er nicht recht schreiben konnte und als Schriftsteller immer erfolglos blieb, hatte er Zeit und Lust, die »Gruppe 47« zu organisieren, zu lenken und lange Jahre am Leben zu halten. Seine Popularität, seine Bedeutung in der literarischen Öffentlichkeit verdankte er mit Sicherheit nicht seinen Büchern oder seinen immer seltener werdenden Zeitungsartikeln, sondern ausschließlich der Existenz der »Gruppe 47« und seiner Rolle als ihre zentrale und führende Figur.
Mit Richters Mentalität und Einstellung hatte es wohl auch zu tun, daß es eine Literatur der »Gruppe 47« nicht gibt und nie gegeben hat. Schuld an den vielen Mißverständnissen, die sie ausgelöst hat, ist das schlichte Wort »Gruppe«. Denn es suggeriert eine literarische Richtung, eine Schule oder Strömung. Davon konnte nie die Rede sein. Besser wäre es gewesen, man hätte eine Bezeichnung wie etwa »Forum 47« gewählt oder »Studio 47« oder »Arena 47«. Diese »Gruppe 47« war kein Phänomen der Literatur, vielmehr ein (überaus wichtiges) Phänomen des literarischen Lebens in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie war nicht mehr und nicht weniger als ein Sammelbecken, ein drei Tage im Jahr funktionierendes Zentrum der deutschsprachigen Literatur. Sie war eine
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