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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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dringend benötigte Probebühne und eine alljährliche Modenschau.
    Das Ritual der Tagungen war ungewöhnlich: Man konnte ja nicht einmal einen Blick auf das zu beurteilende Manuskript werfen, man mußte sich über eine literarische Arbeit äußern, die man nur gehört hatte. Ich fand das fragwürdig und bedenklich. Aber bald begriff ich, daß dieses Ritual doch zulässig und sogar notwendig war, um derartige Schriftsteller-Treffen überhaupt zu ermöglichen.
    Die Zuhörer verfolgten den vorgelesenen Text, ob er gut oder schwach schien, sehr aufmerksam. Viele von ihnen machten sich Notizen. Auch ich tat, was ich für ganz selbstverständlich hielt: Ich schrieb mir Stichworte und einzelne Formulierungen auf und wagte es, mich bald zu Wort zu melden. Richter ließ mich reden, und was ich zu sagen hatte, wurde, so schien es mir, mit Interesse und Wohlwollen aufgenommen.
    Das nächste Treffen der »Gruppe 47« fand im Oktober 1959 statt, doch nicht mehr in einem bescheidenen Gasthof, sondern in einem Schloß im Karwendelgebirge. Pünktlich erhielt ich von Richter die in der literarischen Welt so begehrte Einladung. Der Inhalt seines Briefes überraschte mich: Ich müsse auf jeden Fall kommen, er könne mich als Kritiker nicht mehr entbehren, denn ich hätte einen neuen Ton in die Diskussion getragen – und diesen Ton brauche die Gruppe unbedingt.
    Dieser Brief hat mich beeindruckt, beinahe beglückt. Weil Richter sich bemühte, mir zu schmeicheln? Nicht nur. Schon in Polen hatte ich, in der letzten Zeit vor meiner Abreise, einiges von den Preisträgern der »Gruppe« gelesen, von Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger, Heinrich Böll, Günter Eich und Martin Walser. Ich kannte die Namen vieler der in Großholzleute anwesenden Autoren wie Hans Magnus Enzensberger oder Wolfgang Hildesheimer, von Günter Grass ganz zu schweigen.
    Ich fühlte mich in dieser deutschen Schriftsteller-Gruppe alles in allem ganz gut und jedenfalls nicht fremd. Und nun hatte ich noch von Richter erfahren, daß mich die »Gruppe 47« akzeptiert hatte. So verstand ich seinen Brief. Kaum mehr als ein Jahr wieder in Deutschland ansässig, war ich nach wie vor einsam, aber immerhin wußte ich schon, wo ich hingehörte. Ich glaubte eine Art Zuflucht gefunden zu haben. Freilich hatte ich, um es gleich zu sagen, meine Situation verkannt: Viele Jahre später mußte ich mich davon überzeugen, daß der Wunsch der Vater meiner Gefühle und Gedanken gewesen war.
    In seinen 1974 veröffentlichten Erinnerungen glaubte Richter darauf hinweisen zu müssen, daß ich mir auf der Tagung von 1958, obwohl zum ersten Mal mit von der Partie, gleich Notizen gemacht hätte, was er mißbilligend kommentierte: »So schnell geht das also mit der Akklimatisation.« Ihm hatte wohl mißfallen, daß ich mich nicht verhielt wie andere ausländische Gäste der »Gruppe 47«. In der Regel beschränkten sie sich auf die Rolle des stummen Beobachters.
    Doch zugleich empfahl mich Richter damals, 1958, der Wochenzeitung »Die Kultur« als Berichterstatter von der Tagung in Großholzleute – wohl vor allem deshalb, weil er von mir (und nicht zu Unrecht) eine günstige Darstellung der vorerst in der Öffentlichkeit noch sehr umstrittenen »Gruppe 47« erwartete. In meinem Artikel nannte ich Richter, natürlich scherzhaft, einen Diktator und fügte sofort hinzu: Obwohl wir gegen jegliche Diktatur seien, ließen wir uns eine solche gern gefallen.
    Diese Äußerung konnte er nicht vergessen. Noch 28 Jahre später kam Richter in seinem Buch »Im Etablissement der Schmetterlinge« auf sie zu sprechen. Er verübelte mir ein Wort, das in meinem »Kultur«-Bericht enthalten war und das ihn allem Anschein nach gekränkt oder geärgert hatte – doch nicht etwa das Wort »Diktatur«. Welches also? Er beanstandete, daß ich mir erlaubt hatte, das Wort »wir« zu verwenden: »Reich-Ranicki schrieb ›wir‹, er gehörte also schon dazu, ganz selbstverständlich, obwohl ich nichts Dementsprechendes gesagt hatte.«
    Als ich dies 1986 las, begriff ich erst, wie groß damals mein Irrtum, mein Mißverständnis war. Ich war überzeugt, daß Richter und die Leute der »Gruppe 47« in mir einen Kritiker sahen, den die deutsche Literatur geprägt hatte und dessen Arbeitsgebiet ausschließlich eben die deutsche Literatur war. Ob mir die Zugehörigkeit zur »Gruppe 47« gebührte, das wußte ich nicht. Jedenfalls konnte ich darauf keinen Anspruch erheben. Nur glaubte ich, daß mir ein Platz – und sei es der

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