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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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damals bei mir in Hamburg, und ich habe Ihnen geraten, sofort den Namen zu ändern – sonst wären Sie als Kritiker verloren. Können Sie sich an meinen Ratschlag erinnern?«
    »Ja« – antwortete ich –, »selbstverständlich.« Und Heinz Liepman sagte nachdenklich: »Da sehen Sie, wie man sich irren kann.«
    Auch Siegfried Lenz erteilte mir einen Ratschlag – und der seinige war der wichtigste. Mit Kritiken in der »Welt« und in der »Frankfurter Allgemeinen« würde ich mir – meinte Lenz – zwar einen Namen machen, aber von diesen kargen Honoraren könne ich nicht leben, schon gar nicht mit Tosia und Andrew, die ja bald aus London nach Frankfurt kämen. Ich müsse für den Rundfunk arbeiten, der ungleich besser bezahle. Er ging mit mir von einem Abteilungsleiter des Norddeutschen Rundfunks zum nächsten, er telefonierte mit den Chefs der Nachtprogramme, der Nachtstudios und der Kulturabteilungen des Rundfunks. Er wollte mir überall den Weg bahnen – und in den meisten Fällen gelang ihm dies.
    An Aufträgen mangelte es mir nicht, so daß ich es mir leisten konnte, einen Geldbetrag, den mir meine Schwester, die selbst in bedrängten materiellen Verhältnissen lebte, überwiesen hatte, postwendend zurückzuschicken. Übrigens brauchte ich nicht mehr bei meinem Onkel zu wohnen. Hansjakob Stehle, der Warschauer Korrespondent der »Frankfurter Allgemeinen«, begann gerade in Frankfurt seinen jährlichen Heimaturlaub. Hier erfuhr er von mir, nur wenig überrascht, daß ich mich entschlossen hatte, im Westen zu bleiben. Als er dies hörte, reagierte er spontan – nicht mit Worten, sondern mit einer Geste, die ich immer noch vor mir sehe. Zu meiner Verwunderung zog er aus seiner Hosentasche ein Lederetui, legte es auf das zwischen uns stehende Tischchen und schob es mir zu: »Hier hast du die Schlüssel zu meiner Frankfurter Wohnung.« Von diesem Angebot habe ich einige Wochen lang gern Gebrauch gemacht. Oft in meinem Leben mußte ich (leider!) an das alte Wort denken, demzufolge jener der wahre Freund sei, auf den man sich in der Not verlassen könne. Meine wenigen Freunde waren und sind gute Freunde. Zu ihnen gehört Hansjakob Stehle.
    Kummer bereitete mir die Aufenthaltserlaubnis. Der deutsche »Einreisesichtvermerk« lief im Oktober 1958 aus und konnte nicht verlängert werden, da auch mein polnischer Paß nicht länger gültig war. Gewiß konnte ich um politisches Asyl bitten. Die behördlichen Formalitäten würden wohl rasch und reibungslos erledigt werden. Nur geriete ich unweigerlich in die Zeitungen, man würde von mir erwarten, wenn nicht gar verlangen, daß ich Belastendes über das kommunistische Polen berichte, daß ich, wie in solchen Fällen üblich, ordentlich auspacke.
    Aber am kalten Krieg wollte ich nicht teilnehmen. Mit literarkritischen Arbeiten hatte ich meine Tätigkeit in Polen beendet und sie mit literarkritischen in Deutschland begonnen. Dabei sollte es bleiben. Also wandte ich mich an die polnische Dienststelle – polnische Konsulate gab es noch nicht –, die für die Bundesrepublik zuständig war, an die Militärmission in Westberlin, in der ich einst selber gearbeitet hatte: Da ich aus beruflichen Gründen beschlossen hätte, meinen Aufenthalt in Deutschland auszudehnen, bäte ich um die Verlängerung meines Passes. Man kann sich leicht denken, welche Antwort ich erhalten habe – überhaupt keine, bis heute nicht. Was sollte ich also tun?
    Molieres Monsieur Jourdain wußte nicht, daß er Prosa sprach, und auch ich verfiel nicht auf die einfachste Idee – nämlich die deutsche Staatsangehörigkeit zu beantragen. Da ich eine deutsche Schule absolviert hatte und während des »Dritten Reichs« aus Deutschland ausgewiesen und deportiert worden war, bestanden, wie sich zeigte, ausreichende Voraussetzungen für die deutsche Staatsangehörigkeit. Ich hatte einen Anspruch darauf, als Deutscher anerkannt zu werden. Freilich mußte noch festgestellt werden, ob ich als zugehörig zum deutschen Kulturkreis gelten könne. Das sollten zwei Beamte ermitteln, die von einem Ministerium in Wiesbaden kamen und mich in ein längeres Gespräch verstrickten – nicht etwa über den »Faust« oder über Schillers Balladen, sondern über Pasternaks »Doktor Schiwago«; der russische Roman, eben in deutscher Sprache erschienen, war damals in aller Munde.
    Die Sache endete günstig, wir, Tosia und ich, wurden als Deutsche anerkannt. Einige Freunde hielten es für angebracht, uns ihr Beileid

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