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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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denn auch sofort geschah. Redaktionskonferenzen fanden damals in der »Zeit« zweimal wöchentlich statt: eine große Konferenz, bei der alle Redakteure zugegen waren, auch die Volontäre oder Hospitanten, und eine kleine, in der die Feuilleton-Redakteure die nächste Nummer vorbereiteten. Mich hat man nie eingeladen, und ich wollte nicht aufdringlich sein. So habe ich in den vierzehn Jahren bei der »Zeit« an keiner Konferenz teilgenommen, an keiner einzigen.
    Wonach ich mich so sehnte, das hatte ich gefunden: eine Heimstätte – allerdings nur für meine Arbeit, nicht für meine Person: Ich wurde ausgegrenzt, ich fühlte mich ausgeschlossen – und je länger und erfolgreicher ich für die »Zeit« schrieb, desto mehr steigerte sich dieses Gefühl. Ich saß isoliert und vereinsamt in unserer kleinen Wohnung im Hamburger Vorort Niendorf und produzierte ein Manuskript nach dem anderen. Große Teile meiner in den sechziger und siebziger Jahren erschienenen Bücher – »Literatur der kleinen Schritte. Deutsche Schriftsteller heute«, »Lauter Verrisse«, »Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur«, »Zur Literatur der DDR« – sind auf diese Weise entstanden. Aber mein Kontakt mit der Welt ging nur selten über Telefongespräche hinaus. Daher war ich zufrieden, daß ich von Zeit zu Zeit Vorträge zu halten hatte, in der Bundesrepublik und in anderen Ländern. Sie vermochten das Monologische meines Daseins zu mildern, vorübergehend jedenfalls.
    1968 habe ich ein Semester lang deutsche Literatur an der Washington University in St. Louis gelehrt. Zu meinen nicht sehr anstrengenden Verpflichtungen gehörten Vorlesungen und Seminare. Da ich noch nie an einem Seminar teilgenommen hatte, wollte ich von einem in akademischen Diensten schon ein wenig ergrauten Kollegen wissen, was das denn eigentlich sei. Er reagierte mit einer Gegenfrage: Wie ich mir ein Seminar vorstelle? Ich sagte es, temperamentvoll und wohl unbeholfen. Er antwortete, genau so solle man ein Seminar machen. Sonderbar: Wieder einmal mußte ich andere belehren, ohne selber etwas gelernt zu haben.
    Die Leser der »Zeit« haben meine Abwesenheit überhaupt nicht bemerkt, denn auch aus St. Louis versorgte ich die Redaktion mit Manuskripten, zumal über die junge deutsche Literatur – von Hubert Fichte bis Rolf Dieter Brinkmann. Nach meiner Rückkehr stellte sich aber heraus, daß sich für mich nichts geändert hatte und nichts ändern werde: Man konnte mich in der Redaktion nicht brauchen, man wollte mich in den Konferenzen nicht sehen.
    »Erlaubst du wohl, dir ein Geschichtchen zu erzählen?« – so fragt Nathan, der Weise, den Sultan Saladin. Nun denn, auch ich erlaube mir, hier ein Geschichtchen einzufügen. Vor vielen Jahren lebte ein Mann in Polen, ein Jude namens Chajim Selig Slonimski. Er wurde 1810 in Bialystok geboren und starb 1904 in Warschau. Nachdem er in seiner Jugend ausschließlich den Talmud und die rabbinische Literatur studiert hatte, widmete er sich später mathematischen und astronomischen Studien. Um 1840 gelang es ihm, eine Rechenmaschine zu konstruieren. Die Kunde von der außerordentlichen Erfindung erreichte Zar Nikolaus I. Er wünschte die Maschine zu sehen. Also wurde Slonimski nach Sankt Petersburg eingeladen und vom Zaren in Audienz empfangen. Doch bevor man ihn vorließ, schärfte man ihm ein, daß er nur die Fragen Seiner Majestät beantworten dürfe, ansonsten aber unbedingt schweigen müsse. Die Audienz verlief gut, doch wollte der Zar wissen, wie er sich davon überzeugen könne, daß die Maschine auch tatsächlich korrekt rechne. Er möge ihm, schlug der Mathematiker untertänigst vor, eine arithmetische Aufgabe stellen. Diese geruhe Majestät auf die herkömmliche Weise zu lösen, also mit Bleistift und Papier, er hingegen werde es mit der neuen Maschine versuchen. Majestät könne ja dann die Ergebnisse vergleichen. Das leuchtete dem Zaren ein. Kaum hatte das Rechnen der beiden ungleichen Herrn begonnen, schon rief der glückliche Erfinder der Rechenmaschine: »Ich hab es.« Der Zar blickte zornig auf, denn da hatte jemand gewagt, in seiner Gegenwart zu reden, obwohl er nicht gefragt worden war. Im Audienzsaal herrschte eine eisige Atmosphäre. Der verärgerte Zar schwieg und wandte sich wieder seiner ihn offenbar sehr anstrengenden Rechenaufgabe zu. Endlich konnte er die beiden Ergebnisse miteinander vergleichen – und mürrisch ließ sich Seine Majestät vernehmen, knapp und klar: »Maschine gut, Jude

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