Mein Leben
änderte sich das politische Klima in der Bundesrepublik zusehends: Durch die »Große Koalition« von 1966 war eine ganz neue Situation gegeben. Die sozialistischen und marxistischen Kräfte und im weiteren Sinne die junge Generation sahen sich durch die Opposition im Bundestag nicht vertreten, sie waren enttäuscht und fühlten sich im Stich gelassen. In den öffentlichen Diskussionen fielen zwei neue Begriffe auf: »Außerparlamentarische Opposition« und »Studentenbewegung«.
Was sich da abspielte, konnte mir nicht gleichgültig sein: Natürlich war ich auf selten jener, die eine radikale Hochschulreform anstrebten und wirkungsvoll mit dem Slogan »Unter den Talaren Muff von tausend Jahren« operierten. So unseriös und gelegentlich sogar abstoßend manche Manifestationen der neuen, der mit dem Jahre 1968 assoziierten und nicht selten wirr anmutenden politischen Bewegung auch waren, so hat sie doch – und das ist ein historisches Verdienst – die längst fällige und bis dahin bestenfalls schleppende Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich«, vor allem mit den Nationalsozialisten im öffentlichen Leben der Bundesrepublik, durchgesetzt und beschleunigt. Das gilt für die Politik, die Justiz und besonders für die Universitäten, namentlich für die Germanistik und die Medizin, für die Kunstgeschichte und die Musikwissenschaft.
Dennoch hielten sich meine Sympathien für diese lautstarke und chaotische Revolte in Grenzen – und mein Mißtrauen wurde immer größer. Jedenfalls war ich bei keinem »Sit-in«, »Go-in« oder »Teach-in« dabei, ich habe kein Happening miterlebt, ich war bei keiner einzigen Versammlung oder Kundgebung zugegen, ich habe mich keiner Demonstration angeschlossen. Von alldem habe ich nicht wenig gesehen, aber ich sah es ausschließlich auf dem Bildschirm. Die brüllenden Agitatoren, die skandierenden Sprechchöre, die sich in langen Formationen fortbewegenden Kolonnen – das alles kannte ich hinreichend, das alles war mir seit meiner Jugend zuwider.
Daß die Theoretiker und Führer der Revolte politische Ziele verfolgten, versteht sich von selbst. Aber die immer wieder verkündeten und oft gereimten Parolen konnten einen etwas beunruhigenden Sachverhalt nicht verbergen: Die lautstarke Bewegung hatte einen nicht ausschließlich, doch vornehmlich emotionalen, wenn nicht intuitiven Untergrund. Die sich an ihr beteiligten, protestierten gegen die Verhältnisse in der Bundesrepublik, deren sie längst überdrüssig waren. Doch war es für die meisten von ihnen nur ein ganz vager Protest gegen das, was man mit Ekel das »Establishment« nannte, also gegen die Welt der Väter. Wogegen sich dieser ganze Aufruhr richtete, war also klar; was er erreichen wollte, ließ sich schon weniger deutlich erkennen; und auf welche Weise dies erreicht werden sollte, blieb vollends im dunkeln.
Sprößlinge der Wohlstandsgesellschaft, die sich fortwährend auf Marx und Engels beriefen, hatten sich offensichtlich die Revolution als pikante Freizeitbeschäftigung auserwählt, als Hobby mit nur geringem Risiko. Die Vokabeln »bürgerlich« und »proletarisch«, »Kapitalismus« und »Ausbeutung« wurden immer häufiger verwendet und oft sinnlos deklamiert. Die Begriffe »Utopie« und »Dialektik« avancierten zu Zauberworten, deren man sich wie des Jokers im Kartenspiel bediente. Sehr bald trat ein arges Mißverhältnis zutage – zwischen den hochfahrenden Zielen und den bescheidenen Möglichkeiten, zwischen den großen Worten und der noch größeren Ratlosigkeit.
Was mich am meisten berührte und verwunderte, war die Rolle der Schriftsteller in diesem Aufruhr. Viele von ihnen hatten keine Hemmungen, sich einer politischen und gesellschaftlichen Bewegung anzuschließen, deren Verhältnis zu Kunst und Literatur im Grunde geringschätzig war. Jetzt sollten die Schriftsteller nicht mehr im Namen des Individuums sprechen und das Individuum gegen jene Institutionen und Mächte verteidigen, die es für ihre Zwecke gebrauchten und mißbrauchten. Vielmehr sollte die Literatur das Individuum vor allem politisch mobilisieren: Sie hatte als Werkzeug von Ideologien zu dienen, sie hatte zur angestrebten Weltveränderung beizutragen. Die dies am lautesten forderten, waren paradoxerweise gerade jene, die an der Autonomie der Literatur am meisten interessiert sein sollten: eben die Schriftsteller. Das alles kam mir sehr bekannt vor. Ich hatte es schon einmal erlebt und vor gar nicht so langer Zeit – in Polen. Über
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