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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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einige Monate, später einige Wochen im Jahr – als ständiger Gastprofessor für Neue Deutsche Literatur an den Universitäten Stockholm und Uppsala.
    1972 erhielt ich die erste Auszeichnung meines Lebens: die Ehrendoktorwürde der Universität Uppsala. Die Zeremonie war überaus feierlich: Es läuteten die Glocken der alten, der ehrwürdigen Domkirche von Uppsala, Kanonenschüsse wurden abgefeuert, auf den Kopf drückte man mir einen Lorbeerkranz. Dessen Blätter stammten von einem Baum, den in der Nachbarschaft der Universität angeblich Linne persönlich gepflanzt hatte. Ich war gerührt – und ich dachte darüber nach, daß ich für Verdienste um die westdeutsche Literatur (das war die offizielle Begründung) nicht von einer deutschen, sondern von einer schwedischen Universität geehrt wurde.
    Die weiteste Vortragsreise meines Lebens konnte ich 1972 absolvieren – nach Australien und Neuseeland. Damals hatte ich der »Zeit« schon gekündigt und, was freilich niemand wissen durfte, den Vertrag für eine neue Tätigkeit unterschrieben: Noch im selben Jahr sollte ich die Leitung des Literaturteils der »Frankfurter Allgemeinen« übernehmen.

 
FÜNFTER TEIL
 
von 1973 bis 1999

 
Der dunkle Ehrengast
     
    Joachim Fest habe ich 1966 kennengelernt – im Haus gemeinsamer, gastfreundlicher Bekannter, die in einem Hamburger Vorort lebten. Er arbeitete damals im Norddeutschen Rundfunk, wo er für das Fernsehmagazin »Panorama« verantwortlich war. Dann trafen wir uns hier und da, gingen gelegentlich zusammen ins Theater, und bald besuchten wir uns gegenseitig. Allmählich kam es zu einer Annäherung zwischen uns beiden, die in eine etwas ungewöhnliche Beziehung mündete, eine zeitweilige Freundschaft, die, wenn es denn wirklich eine Freundschaft war, auf Seiten Fests zweierlei erkennen ließ: aufrichtige Herzlichkeit, verbunden jedoch mit Reserve, mit einer gewissen Förmlichkeit. Er hat diese Förmlichkeit, auf die er, glaube ich, ein wenig stolz war, mir gegenüber nur langsam und nie ganz überwunden – weil er dazu nicht imstande war oder weil er es nicht wollte.
    Nach einiger Zeit trafen wir uns überraschend in einem Hotel in der Nähe von Baden-Baden. Es war der gleiche Wunsch, der uns veranlaßte, hierherzukommen: Nicht um Erholung ging es uns vor allem, sondern um eine Atempause – wir wollten den Alltag unterbrechen, zumindest für eine kurze Zeitspanne. So lagen wir auf der geräumigen Hotelterrasse, erfreuten uns an den bequemen Sesseln und auch an der in nebelhafter Ferne nur undeutlich sichtbaren französischen Landschaft. Rasch kamen wir auf jene komfortablen und raffiniert konstruierten Liegebetten zu sprechen, auf denen in einem Sanatorium in Davos ein junger, außerordentlich wortgewandter Ingenieur zu ruhen pflegte – Hans Castorp aus Hamburg. Dabei sollte es noch lange, noch viele Jahre bleiben: Unsere Unterhaltungen gingen oft von Thomas Mann aus und kehrten, nach vielen Umwegen, die meist über Goethe, Heine und Fontane, über Mozart, Schubert und Wagner führten, wieder zu Thomas Mann zurück. Fests sehr schnelle Auffassungsgabe erleichterte unsere Verständigung, seine Kenntnisse, zumal im Bereich der musischen Disziplinen, wirkten auf mich in hohem Maße anregend und machten unsere Gespräche, wann und wo immer sie stattfanden, amüsant. Ich lernte von ihm viel, und es mag sein, daß er auch ein bißchen von mir gelernt hat.
    Jedenfalls gefiel mir seine Bildung. Freilich hatte sie auffallende Grenzen: Von der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts ließ er kaum mehr als drei oder vier Genies gelten, von der Musik dieser Zeit wollte er, wiederum von wenigen Ausnahmen abgesehen, nichts wissen. Nun trifft ähnliches auf viele von uns zu. Doch Fest verteidigte derartige Bildungslücken mit einem mich verwundernden und mir hochmütig vorkommenden Trotz: Die Dichter und Komponisten, deren Werke er nicht kannte, seien daran selber schuld – und was sie geleistet hatten, schien ihm belanglos, wenn nicht gar verächtlich. Das beunruhigte mich ein wenig. Ich fragte mich, ob sich in diesen entschiedenen Verwerfungen, in dieser mitunter herrischen Verstocktheit nicht eine ernste Gefahr verberge. Aber glücklich, einen so ausgezeichneten Gesprächspartner gefunden zu haben, maß ich solchen Gedanken, solchen leisen Befürchtungen vorerst keine Bedeutung bei.
    Wieder in Hamburg, trafen wir uns immer häufiger, und immer länger wurden unsere Telefongespräche, vorwiegend in den Abendstunden, da

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