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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Tagung der »Gruppe« schlagartig hatte sichtbar werden lassen.
    Aber so albern diese unerwartete Konfrontation auch war, ihren gleichnishaften Charakter sollte man nicht verkennen. Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre folgten ähnliche Spektakel. Sie zeigten immer wieder die Unsicherheit und die Ratlosigkeit vieler Intellektueller: Meist fürchteten sie, in eine Sackgasse geraten zu sein, und nahmen sich den beschwörenden Appell der oppositionellen Studenten und ihrer Gesinnungsgenossen zu Herzen. Manche Schriftsteller gingen prompt und forsch auf die Suche nach einer Barrikade. Vernachlässigten sie jetzt die Literatur, um sich der Politik stärker als bisher widmen zu können? Oder suchten sie vielleicht nur deshalb so intensiv Zuflucht bei der Politik, weil sie mit dem Dichten nicht mehr recht vorankamen?
    Mich jedenfalls hat die damals entstehende Literatur enttäuscht. Doch dachte ich nicht daran, mich von ihr abzuwenden. Aber ich wollte mich häufiger als bisher mit der deutschen Literatur von gestern befassen, mit jener also zwischen dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert und dem Zweiten Weltkrieg.
    Und die Feuilleton-Redaktion der »Zeit«? Sie behandelte mich nach wie vor ausgezeichnet: Meine zahlreichen Rezensionswünsche wurden erfüllt, man kam mir immer entgegen. Über die großen deutschen Schriftsteller der unfernen Vergangenheit konnte ich schreiben, wie oft und wieviel ich wollte. So schrieb ich über Fontane und Thomas Mann, über Hofmannsthal und Schnitzler, über Döblin, Hermann Hesse und Arnold Zweig, über Horvath, Tucholsky und Joseph Roth. Daraus ist entstanden, was ich stets vor Augen hatte: mein 1977 veröffentlichtes Buch »Nachprüfung«.
    Die neuen Bücher der Gegenwartsautoren, auf die es mir ankam, erhielt ich ebenfalls zur Besprechung, also Frisch, Dürrenmatt und Böll, Grass, Eich und Andersch, Johnson und Handke, Christa Wolf oder Franz Fühmann. Wenn ich ohne aktuellen Anlaß einen überdimensionalen Aufsatz über Arno Schmidt lieferte, stöhnte der für die Literatur zuständige Redakteur Dieter E. Zimmer leise, druckte aber das riesige Manuskript sofort und ungekürzt.
    Ich hatte Lust, mich mehr mit der angelsächsischen Prosa zu befassen, und prompt erhielt ich, was ich wollte: Hemingway und Graham Greene, Bellow und Malamud, John Updike und Philip Roth. Wie war es mit der Lyrik, der deutschen vor allem? In einem nächtlichen telefonischen Meinungsaustausch, der fast zwei Stunden dauerte – es war 1967 –, beteuerte Rudolf Walter Leonhardt, daß er mich schätze und bewundere und ganz besonders meine Kritiken von Romanen, Erzählungen und Essays. Das gefiel mir gar nicht, ich witterte sofort einen versteckten Tadel. Und in der Tat: Leonhardt gab zu verstehen, daß die zarten Schwingungen der holden deutschen Poesie wohl nicht ganz meine Sache seien. Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen.
    Am nächsten Morgen bat ich Dieter E. Zimmer, einen Gedichtband besprechen zu dürfen. Ich rezensierte das gerade erschienene Buch »Ausgefragt« von Günter Grass. Kaum war dieser sehr lange und sehr lobende Aufsatz gedruckt, da rief mich Erich Fried an: Das gehe nun doch zu weit, denn bei meinem Artikel handle es sich unzweifelhaft um »Personenkult«. Er dürfe wohl erwarten, daß nun auch seine Lyrik von mir so ausführlich abgehandelt werde. Gleich meldeten sich weitere Poeten, die indes nicht etwa das Bedürfnis hatten, sich über die Qualität oder Miserabilität der Verse von Grass oder meiner Darlegungen zu äußern, wohl aber, ähnlich wie Fried, eine genauso ausführliche Würdigung ihrer Lyrik anmahnten.
    Ging es mir also bei der Wochenzeitung »Die Zeit« wunderbar? Ja und nein. Nach wie vor hatte ich es nicht nötig, in der Redaktion zu arbeiten. Nach wie vor wurde mir dies als eine ganz besonders großzügige Vergünstigung dargestellt, für die ich ganz besonders dankbar sein solle. Man wolle mir, hörte ich immer wieder, den mühseligen und bisweilen langweiligen Redaktionsalltag ersparen, damit ich mich ausschließlich meiner für die »Zeit« so wichtigen Schreibarbeit widmen könne. Ich brauchte also nicht in die Redaktion zu kommen; aber durfte ich es, war ich dort erwünscht? Meine Manuskripte schickte ich mit der Post. Und wenn sie besonders eilig benötigt wurden, lieferte ich sie persönlich ab, was leicht zu machen war. Doch bald erfuhr ich, daß ich mir keine Mühe mit der Zustellung geben solle, ein Fahrer werde das Manuskript abholen, was

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