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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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wir, ermüdet von angespannter und einsamer Schreibarbeit, uns nicht etwa nach Ruhe sehnten, wohl aber nach einem unbeschwerten Gedankenaustausch über die Themen, die uns den Tag über in Anspruch genommen hatten. Ich arbeitete damals an einem kleinen Buch mit dem Titel »Über Ruhestörer. Juden in der deutschen Literatur«, Fest an einem in jeder Hinsicht gewichtigen Werk mit dem Titel »Hitler. Eine Biographie«.
    Noch bevor diese Monographie abgeschlossen, geschweige denn gedruckt war, wurde Fest angeboten, als Mitherausgeber der »Frankfurter Allgemeinen« deren Kulturteil zu betreuen. Das war ein ehrenvolles Angebot, sonderlich reizvoll war es allerdings nicht. Denn in der »Frankfurter Allgemeinen« gibt es keinen Chefredakteur und keinen stellvertretenden Chefredakteur, wohl aber sechs oder, wie jetzt, fünf Herausgeber; und es sind in der Regel nicht die bedeutendsten Solisten, die sich mit der Teilnahme an einem Sextett oder Quintett begnügen.
    Dennoch hatte Fest Gründe, sehr unterschiedliche übrigens, auf dieses Angebot einzugehen. Er informierte mich und fragte mich sogleich, ob ich bereit wäre, die »Zeit« zu verlassen und mit ihm zusammen zur »Frankfurter Allgemeinen« zu gehen, um dort die Leitung der Literaturredaktion zu übernehmen. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber ich zögerte keinen Augenblick, ihm zu antworten: Jawohl. Für die »Frankfurter Allgemeine« war Fests Wunsch, der sich einer Bedingung näherte, nicht leicht zu akzeptieren. Aber er wurde erfüllt – nicht zuletzt deshalb, weil sich die Herausgeber der »Frankfurter Allgemeinen« über dieses Ressort keine Illusionen machten: Sie wußten, daß der Literaturteil, der einst von Friedrich Sieburg geleitet wurde, längst seine Qualität eingebüßt hatte. Vor allem störte es sie, daß er mit dem Rücken zum Publikum redigiert wurde.
    Ende April 1973 traf ich in Frankfurt mit dem Geschäftsführer und dem Vorsitzenden des Herausgebergremiums der »Frankfurter Allgemeinen« zusammen. Dieses Treffen fand nicht im Haus der Zeitung statt, sondern aus Gründen der Konspiration – vorerst sollte niemand wissen, daß ich zur »Frankfurter Allgemeinen« komme – in einem Hotel am Flughafen. Mit den mir vorgeschlagenen Bedingungen und Modalitäten war ich gleich einverstanden, nur sollte im Vertrag ausdrücklich gesagt werden, daß mir »die Bereiche Literatur und literarisches Leben« oblägen und daß ich »unmittelbar den Herausgebern unterstellt« sei. Daran war mir besonders gelegen: Ich wollte auf keinen Fall einem Feuilletonchef unterstehen. Mit meinem Einzug in die Redaktion der »Frankfurter Allgemeinen« sollte also die Kultur in zwei Bereiche mit gleichberechtigten Chefs aufgeteilt werden – das allgemeine Feuilleton, geleitet von Günther Rühle, und die Literatur. Mein Wunsch wurde erfüllt.
    Fest war zufrieden, und ich war es erst recht. Rund fünfzehn Jahre nach meiner Rückkehr hatte ich endlich einen Posten im literarischen Leben Deutschlands und vielleicht den wichtigsten. Aus dem Literaturteil dieser Zeitung würde sich, das hoffte ich, ein Forum und ein Instrument höchsten Ranges machen lassen – vorausgesetzt, daß keine Schwierigkeiten die Zusammenarbeit mit Fest beeinträchtigten. Daß sie entstehen könnten, darauf wies nichts hin – einstweilen jedenfalls nicht.
    Anfang September 1973 erschien Fests Hitler-Buch. Aus diesem Anlaß veranstaltete der Verleger der Monographie, Wolf Jobst Siedler, in seinem Haus in Berlin-Dahlem einen großen Empfang. Auch wir, Tosia und ich, wurden eingeladen, was gewiß auf Fests Vorschlag zurückging. Wir waren in bester Laune, als wir, kaum in der Diele der geräumigen und vornehmen Wohnung angelangt, durch die offene Tür in eines der Zimmer blickten und dort etwas sahen, was uns beinahe den Atem verschlug: Einige Personen unterhielten sich sehr angeregt mit einem im Mittelpunkt stehenden, ansehnlichen und korrekt in einen dunklen Anzug gekleideten Herrn, wohl Ende Sechzig. Der Hausherr bemühte sich um ihn äußerst höflich, wenn nicht ehrerbietig. Allem Anschein nach war nicht Fest an diesem Abend der Ehrengast, sondern der durchaus sympathisch anmutende, gesetzte Herr.
    Tosia wurde blaß. Auch ich fühlte mich plötzlich nicht ganz wohl. Es war klar: Wir hatten jetzt nur zwei Möglichkeiten – wir konnten trotz des Ehrengastes bleiben, oder wir mußten die herrschaftliche Villa sofort verlassen, was natürlich einem Eklat gleichkommen würde. Ich überlegte mir die

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