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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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diese neuesten Strömungen des Zeitgeists in der Bundesrepublik wurde mir bald und ganz überraschend ein Anschauungsunterricht erteilt, der heiter und traurig zugleich war.
    Im Oktober 1967 fand in dem zwischen Nürnberg und Bayreuth idyllisch gelegenen Gasthaus »Pulvermühle« eine Tagung der »Gruppe 47« statt. Wie üblich lasen Autoren aus ihren neuen Arbeiten vor – unter anderen Günter Eich, Günter Grass, Siegfried Lenz, Jürgen Becker, Horst Bienek. Aber auch viele andere Autoren (so Dorst, Hildesheimer, Schnurre, Heißenbüttel, Wohmann, Kluge, Rühmkorf, Härtling) waren gekommen und nahmen meist an der Kritik der gelesenen Texte teil. Es war wie eh und je bei der »Gruppe 47«. Doch etwas Ungewöhnliches war nicht zu übersehen: Die Texte, die man zu hören bekam, waren fast alle unpolitisch, und die kritische Auseinandersetzung mit ihnen kümmerte sich wenig um inhaltliche Elemente, zielte hingegen vorwiegend auf deren Form und Sprache. Anders in den vielen, meist erregten Unterhaltungen und Debatten in den Pausen: Hier standen im Mittelpunkt eindeutig politische Fragen.
    Um die Mittagszeit wurden die Tagungsteilnehmer, die einem Prosastück des schwedischen Schriftstellers Lars Gustafsson über den Anarchisten Bakunin aufmerksam lauschten, plötzlich aufgeschreckt: Trotz der geschlossenen Fenster hörten wir laute Sprechchöre. Unermüdlich wurden zwei Losungen wiederholt: »Die Gruppe 47 ist ein Papiertiger« und »Dichter! Dichter!«. Zwischen den höhnischen Rufen ließ man offenbar Luftballons zerplatzen. In den Tagungssaal drang ein als Clown kostümierter junger Mann mit einem Plakat in der Hand: »Hier tagt die Familie Saubermann«. Er wurde aber rasch hinausgedrängt. Hans Werner Richter ordnete eine Pause an. Alle gingen hinaus und sahen zahlreiche, meist junge Menschen mit Transparenten, Schrifttafeln und Lautsprechern, den sogenannten »Flüstertüten«. Es waren eigens zu dieser Demonstration (man nannte das damals eine »Demo«) angereiste Studenten der unweit gelegenen Universität Erlangen, zum Teil verkleidet – sie trugen Faschingskostüme. Angelockt von dem Spektakel, waren auch Bewohner des benachbarten Dorfs zugegen, darunter nicht wenige Frauen mit kleinen Kindern.
    Viele Teilnehmer der Tagung beobachteten das Ganze belustigt, manche, vor allem entschieden linke Autoren, wie Martin Walser, Erich Fried und Reinhard Lettau, wünschten dringend den Dialog mit jenen, von denen sie auf Transparenten als »Dichtergreise« verspottet wurden. Sie beeilten sich, die jugendlichen Demonstranten ihrer wärmsten Sympathien zu versichern und ihrer Bereitschaft zum aufrichtigen, ja, zum brüderlichen Gespräch. In den kurzen Ansprachen der Schriftsteller kehrte refrainartig eine geradezu flehentliche Beteuerung wieder: Freunde, Gefährten, Kameraden, Genossen – wir sitzen doch alle in einem Boot, wir ziehen doch alle an einem Strang. Die Studenten reagierten darauf mit dem nächsten Sprechchor: »Wir wollen diskutieren.«
    Aber es kam zu keinem Dialog – vielleicht deshalb, weil man von den Studenten nicht erfahren konnte, worüber sie eigentlich diskutieren wollten. Sicher war nur, daß sie die Autoren der »Gruppe 47« für zu wenig links hielten und von ihnen ein stärkeres politisches Engagement verlangten, vor allem – so hieß es in ihren Flugblättern – gegen die »Disziplinierungstendenzen im Gesamtprozeß der spätkapitalistischen Gesellschaft«. Statt des Gesprächs mit den Schriftstellern gab es eine kleine Bücherverbrennung: Die Demonstranten warfen die »Bild«-Zeitung und andere Druckschriften in die Flammen.
    Über diese Tagung schrieb ich sofort einen kurzen Bericht für die »Zeit«, eine Woche danach erschien mein zweiter, nun erheblich größerer Aufsatz. In beiden Artikeln habe ich mich – ebenso wie in den vorangegangenen Jahren – mit den Lesungen und mit der Kritik der gelesenen Texte beschäftigt. Daß mir dabei ein großer Fehler unterlaufen war, habe ich erst viel später begriffen: Denn mit keinem einzigen Wort war ich auf die Demonstration der Studenten eingegangen. Ich hatte die Vorgänge vor dem Gasthaus »Pulvermühle« überhaupt nicht ernst genommen, ich hielt sie für lächerlich – und manche Begleitumstände sogar für widerwärtig. In meinen Artikeln habe ich sie ignoriert. Ich wollte mich von dem nicht ablenken lassen, was ich für viel wichtiger hielt – von der zeitgenössischen deutschen Literatur, deren Zustand im Jahre 1967 gerade diese

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