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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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erbärmlichen Zustand. Hatte man das zu meiner Begrüßung so arrangiert? Aber das alles überraschte mich nicht sonderlich, es entmutigte mich überhaupt nicht, es störte mich kaum: Der offensichtliche Widerstand spornte mich erst recht an. Meine Laune war gut, und sie wurde auch noch von Tag zu Tag besser.
    Sofort begann ich intensiv zu arbeiten: Briefe zu diktieren, Manuskripte zu redigieren und vor allem zu telefonieren – zunächst mit den wenigen Mitarbeitern, die ich weiterhin beschäftigen wollte. Der erste, den ich anrief, war Günter Blöcker. Und ich telefonierte mit Schriftstellern und Kritikern, die ich als Mitarbeiter zu gewinnen hoffte. Was ich schon vorher gewußt hatte, bestätigte mir die Lektüre der übrigens nicht zahlreichen Manuskripte, die mein Vorgänger mir hinterlassen hatte: Die meisten waren umständlich und langatmig geschrieben, sie stammten zum großen Teil von Rezensenten, denen allem Anschein nach nicht das mindeste daran gelegen war, von den Lesern verstanden zu werden.
    Ich mußte möglichst schnell neue Mitarbeiter finden. Woher sollte ich sie holen? Ich dachte zunächst an bekannte Schriftsteller. Sie können als Rezensenten erheblich zur Attraktivität des Literaturteils einer Zeitung beitragen und nicht nur deshalb, weil ihre Namen den Lesern vertraut sind. Noch wichtiger ist, daß ihr individueller Stil den Literaturteil farbiger und lebendiger macht. Aber jene, die nur ein- oder zweimal jährlich eine Buchbesprechung schreiben, die also, wenn der Ausdruck erlaubt ist, eher zu den Sonntagsjägern der Kritik gehören, sind in weit höherem Maße als die professionellen Rezensenten bereit, Gefälligkeitsbesprechungen zu verfassen. Der Ruf solcher Autoren hängt ja nicht von ihren journalistischen Nebenarbeiten ab, sondern von ihren Romanen oder Gedichtbänden. Und in der literarischen Branche sind Gegengeschäfte nicht unüblich, seit Generationen kennt man das Motto: »Nenn du mich Schiller, nenn ich dich Goethe.« Die Berufskritiker sind bestimmt nicht ehrlicher oder edler als die Sonntagsjäger. Aber da die Kritik ihre Haupttätigkeit ist, sind sie in der Regel nicht so leichtsinnig, ihr Renommee durch Gefälligkeitsrezensionen aufs Spiel zu setzen.
    Gleichwohl zögerte ich nicht, eine Anzahl namhafter Autoren, die nur gelegentlich Kritiken schreiben konnten und wollten, um Mitarbeit zu bitten. Meine Bemühungen waren nicht vergeblich. Wolfgang Koeppen, Heinrich Böll und Golo Mann, Siegfried Lenz, Hermann Burger und Hans J. Fröhlich, Karl Krolow, Peter Rühmkorf und Günter Kunert – sie alle machten mit. Ich habe es, trotz einiger Gefälligkeitskritiken, die ich nicht verhindern konnte, nie bedauert: Denn gerade diese Autoren haben dem Literaturteil der »Frankfurter Allgemeinen« rasch einigen Glanz verliehen.
    Und die Universitätsprofessoren? Viele Germanisten schrieben damals einen Jargon, den sie für wissenschaftlich hielten, obwohl er eher auf Pseudowissenschaft schließen ließ. Ihre Arbeiten, voll von Fremdwörtern und Fachausdrücken, deren Notwendigkeit in der Regel nicht einleuchtete, waren für die meisten Leser unverständlich. Überdies hatten ihre Manuskripte bisweilen einen penetranten, einen abstoßenden Geruch: den Kreidegeruch der Seminarräume. Diskrete und geduldige Erziehungsarbeit war also nötig. Mit der Zeit wurden aus mindestens fünfzehn Hochschulgermanisten, die bis dahin nie oder nur in Ausnahmefällen für Zeitungen geschrieben hatten, gute, ja sogar vorzügliche Kritiker.
    Nun liegt die Frage nahe, ob ich vielleicht auf diese Weise kompensiert habe, daß mir einst der akademische Weg versperrt war. Das mag schon sein, nur hat dies, glaube ich, weder der Zeitung noch den betroffenen Germanisten geschadet. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Überwindung der traditionellen, der unseligen Kluft zwischen der deutschen Universitätsgermanistik und der Literaturkritik, vornehmlich der Kritik in der Presse, zum Wichtigsten gehört, was mir in den fünfzehn Jahren in der »Frankfurter Allgemeinen« gelungen ist.
    In den angelsächsischen Ländern gibt es diese Kluft nicht – und das konnte man den Manuskripten der dort seit vielen Jahren lebenden und lehrenden Germanisten deutscher oder österreichischer Herkunft sofort anmerken. Sie brauchte man nicht zu überzeugen, daß die Literaturkritik in Zeitungen zwar hohe Anforderungen an die Leser stellen durfte und sollte, doch zugleich verständlich und möglichst leicht lesbar sein mußte. An den

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